AboAbonnieren

Interview mit Schulpsychologen„Gymnasiasten sollten zwei Stunden am Tag lernen“

Lesezeit 10 Minuten
Gymnasium Schüler Lehrer

Schüler beim Arbeiten im Unterricht.

Herr Ammel, Sie sind Lehrer und verraten in Ihrem Buch „Gute Noten ohne Stress“ Tipps, um das Gymnasium erfolgreich zu bestehen. Woran hakt es denn am häufigsten?

Rainer Ammel: Meiner Erfahrung nach eignen sich viele Schüler einen schlechten Lernstil an. Da wird, gerade auch bei begabten Kindern, viel Potenzial verschenkt.

Wie lernt man denn richtig?

Ammel: Die Noten geben darüber nicht unbedingt Aufschluss. Nehmen wir etwa einen Schüler mit guter Auffassungsgabe, aber arbeitsvermeidendem Lernstil, der ans Gymnasium kommt. Erstmal läuft alles glatt und schnell stellt sich ein Gefühl der Sicherheit ein. So lange die Noten so bleiben, sind auch die Eltern entspannt. Aber irgendwann kommt man mit dem schludrigen Lernstil nicht weiter, spätestens wenn mehrere Fremdsprachen zu absolvieren sind. In der achten oder neunten Klasse beginnt dann das große Scheitern.

Hintergrund

Rainer Ammel (47), Mathelehrer und Schulpsychologe an einem Gymnasium in Bayern, hat zwei Söhne.

Abgesehen von diesem Beispiel beobachte ich bei sehr vielen Schülern Folgendes: Erst wenn eine Prüfung ansteht, wird mit dem Lernen begonnen. Was man sich da auf die Schnelle aneignet, ist sehr oberflächliches Wissen. Mit tiefergehenden Fragen ist man überfordert, leichte Abwandlungen der gewohnten Aufgabenstellung werfen einen aus der Bahn. Mit diesem kurzfristigen Lernen eignet man sich auch kein Grundwissen an, was man für die nächsten Themen noch braucht.

Und wie funktioniert es?

Ammel: Ich propagiere einen kontinuierlichen Lernstil. Weg von diesem Lernen, das sich nur auf Prüfungen bezieht. Schüler sollten jeden Tag, auch, wenn keine Prüfung ansteht, ein Pensum von etwa zwei Stunden für Hausaufgaben und zusätzliches Lernen einplanen. Nur so umgeht man die Stressphasen vor Prüfungen und kann auch Grundwissen erwerben.

Das heißt: Wenn ich jemand bin, der brav seine Hausaufgaben macht, aber nicht zusätzlich jeden Tag lernt, reicht das noch nicht?

Ammel: Naja, bezogen auf die heutige Schullandschaft sind Sie schon mal ganz gut, wenn Sie in der Mittelstufe als pubertierender Schüler tatsächlich regelmäßig und ernsthaft Ihre Hausaufgaben machen. Auf der anderen Seite gehören zu den Hausaufgaben eben nicht nur die schriftlichen, sondern auch die mündlichen Aufgaben, die oft nicht laut ausgesprochen werden. Also beispielsweise, dass man die letzte Stunde in eigenen Worten zusammenfassen kann. Dazu kommt das freiwillige Wiederholen: Wer in seinem Problemfach Mathe regelmäßig Grundwissen wiederholt, kann sich von einer Fünf auf eine Vier hocharbeiten.

Oft verzweifeln Eltern an folgender Situation: Das Kind ist begabt, hat aber keine Lust zu lernen. Wie geht man als Eltern damit um?

Ammel: Es ist sehr schwierig, das in in ein paar Sätzen zu sagen, weil es von der speziellen Situation und den beteiligten Charakteren abhängt. In meinem Buch gehe ich darauf ausführlicher ein. Aber: Ohne sanften Druck von Seiten der Eltern funktioniert es selten. Die Kunst besteht darin, als Eltern den Punkt zu erkennen, ab dem die eigenen Bemühungen das Gegenteil bewirken. Es ist nichts gewonnen, wenn die Kinder dadurch noch mehr Motivation verlieren und immer unselbständiger werden.

Buchcover 

Generell würde ich Eltern empfehlen, ihre Kinder in der fünften Klasse an wesentliche Standards heranzuführen: die gewissenhafte Erledigung der mündlichen Hausaufgaben, aber auch Kleinigkeiten wie das vollständige Packen des Schulranzens. Wenn die Eltern sehen, dass es gut läuft, können sie sich zunehmend ausklinken. Leider läuft es oft andersrum: Die Eltern halten sich lange Zeit zurück, weil die Noten passen. Dann kommen in den höheren Jahrgangsstufen die Probleme und die Eltern steigen plötzlich mit voller Wucht ein. Dabei kann viel kaputt gehen.

Aber wenn man als Eltern gerade in dieser Situation ist, kann man doch nicht zuschauen, oder?

Ammel: Ja, das ist ein schmaler Grat. Aber es gibt schon ein paar patente Mittel. Die Eltern können zum Beispiel einen Lern-Vertrag mit dem Kind schließen. Darin verpflichten beide Seiten sich, ein paar Dinge anders zu machen als bisher. Die Eltern sagen zum Beispiel: Okay, ich halte mich zurück und beobachte deine Leistung, bewerte sie aber nicht jeden Tag.

Stattdessen gibt es einmal pro Woche ein Gespräch, in dem die Eltern konstruktiv Rückmeldung geben. Denn den Kindern geht dieses tägliche Genörgel natürlich fürchterlich auf den Wecker. Und es ist schon ein großer Unterschied, wenn die Eltern einen mal in Ruhe lassen. Das schafft Freiräume.

Und was macht das Kind?

Ammel: Es verpflichtet sich, mit diesen Freiräumen verantwortungsbewusst umzugehen und zeigt den Eltern, dass es sich mehr anstrengt und sie sich zurückhalten können. Solche Lern-Verträge können hilfreich sein. Gut ist immer, wenn man diese Vertragssituation von einer dritten Person, etwa einem Schulpsychologen, moderieren lässt. Aber es hängt einerseits immer davon ab, ob die Eltern es schaffen, sich auf eine längere Experimentierphase von mindestens einem Monat einzulassen. Und andererseits, ob das Kind bereit ist, etwas an der Situation zu ändern.

Wie schafft man es denn, dass Kinder intrinsisch motiviert sind, sich also wirklich für die Schule interessieren?

Ammel: Interesse an den Lerninhalten ist natürlich immer hilfreich, aber es muss nicht unbedingt intrinsische Motivation sein. Manche kommen mit einem gesunden Wettbewerbsverständnis gut durch. Die nehmen sich vor, in allen Fächern möglichst gut abzuschneiden und bekommen ziemlich schnell raus, wie das gelingt. Bei diesen Schülern hat das eher einen sportlichen Charakter. Wichtig ist, dass überhaupt eine Motivation da ist. Und im besten Fall geht so eine extrinsische Wettbewerbsmotivation in eine intrinsische über.

Oftmals sind sich Eltern auch gar nicht darüber im Klaren, wie sehr sie Motivation verhindern. Denn der Druck, die Vorhaltungen, die Missbilligungen, die hohen Erwartungen – all das kann das Selbstwertgefühl des Kindes kaputt machen. Und natürlich hat das Kind dann keine Lust, sich auf Schule einzulassen. Da ist ein gewisser Freiraum, der an Bedingungen geknüpft ist, viel hilfreicher. Wenn man dem Kind dann noch Techniken zeigt, wie es sich selbst motiviert, kann aus dieser Kombination was Gutes wachsen.

Was wäre denn eine Technik für einen Jugendlichen, um sich selbst zu motivieren?

Ammel: Ich habe schon mehrere Kurse mit Zehntklässlern zu dem Thema gegeben und da hat sich folgendes Schema als gut erwiesen: Die Schüler sollten sich Gedanken darüber machen, was sie demotiviert. Dabei werden vier Ebenen vorgegeben: Körper, Gefühle, Gedanken und äußere Umstände. Was hält dich also körperlich davon ab, das zu tun, was du für richtig hältst? Oft wird hier Müdigkeit und Schlappheit genannt. Wann sind dir deine Emotionen im Weg? Was für negative Gefühle kommen etwa auf, wenn du an Mathe denkst? Was für negative Gedanken stehen dir beim Lernen im Weg?

Und letztlich die äußere Umgebung, Zimmer und Schreibtisch: Ist das störungsfrei oder fahren da Autos vor dem Fenster vorbei? Passieren Dinge, die dich ablenken? Diese vier Demotivationsfelder sollte man analysieren und sich dann überlegen, wie man die Situation verbessern kann. Die Schüler sind da übrigens sehr einfallsreich: Der eine duscht jetzt zum Beispiel immer, wenn er nach Hause kommt, weil ihn das wach macht.

Aber gibt es nicht auch Schüler, die einfach keine Lust haben? Völlig egal, was die Eltern anbieten?

Ammel: Natürlich gibt es die. Auf das Gymnasium zu gehen, ist keine Selbstverständlichkeit. Und das Gelingen hängt heutzutage viel weniger von der Intelligenz ab als von der Bereitschaft zu arbeiten. Die Eltern sollten dem Kind deutlich machen: Wenn du dazu nicht bereit bist, bist du nicht geeignet fürs Gymnasium. Punkt. Wir gucken uns dein Arbeitsverhalten noch ein halbes Jahr an. Wenn sich die Situation nicht bessert, ist die Realschule besser für dich geeignet.

Das soll keine Drohung sein, sondern eine nüchterne Analyse. Wichtig ist, dass die Eltern das ernst meinen. Wenn man da Scheuklappen auf hat und in einem Schulwechsel die absolute Katastrophe sieht – was leider oft der Fall ist – dann verzögert sich der Leidensprozess nur und man trägt zu noch mehr Schulunlust bei. Ich bin übrigens bisher keinem Schüler begegnet, der den Wechsel an die Realschule aus solchen Gründen bereut hätte. Auch dann nicht, wenn im Vorfeld sehr viel Widerstand bestand. Einige haben dann nach der mittleren Reife mit viel Motivation ihr Abi nachgemacht.

Sie haben Ihr Buch „Gute Noten ohne Stress“ genannt. Glauben Sie, dass Kinder heute mehr gestresst sind als früher?

Ammel: Ich habe in meinen Anfangsjahren als Lehrer G9 erlebt. Mit G8 hat der Stress deutlich zugenommen. Einmal natürlich durch die erhöhte Stundenzahl. Aber ich glaube, es hat auch etwas damit zu tun, dass das Gymnasium für einen viel größeren Teil der Schüler geöffnet wird, ohne das Niveau zu senken.

Früher wurde die Realschule noch als gute Schulwahl angesehen, aber heutzutage, bei Übertrittquoten von mehr als 70 Prozent in manchen Großstädten, können manche Schüler nur mit sehr viel Coaching von Elternseite, inhaltlicher Hilfe, Nachhilfe und so weiter bestehen. Außerdem erlebe ich die Oberstufe als viel härter. Da gibt es einen gnadenlosen Kampf um Punkte, weil es ein ganz bestimmter Schnitt sein muss. Dieser Kampf macht manche Schüler in der Oberstufe geradezu krank.

Rainer Ammel: „Gute Noten ohne Stress“, Heyne-Verlag, 192 Seiten, 9,99 Euro, E-Book: 8,99 Euro

Hausaufgaben, Klassenarbeiten, Prüfungsangst – drei Tipps vom Schulpsychologen

Neuer Schulweg, neues Gebäude, neue Mitschüler, neue Fächer, neue Lehrer. Beim Wechsel auf die weiterführende Schule ist erstmal alles anders. Das überfordert viele Schüler – aber die Eingewöhnung geht schnell, beruhigt Mathelehrer und Schulpsychologe Rainer Ammel: „Die Schüler bekommen bald raus, welcher Lehrer was verlangt.“ Dafür zeichnet er zwei andere Problemfelder auf.

Hausaufgaben lernen Schüler

Ein Kind sitzt in seinem Kinderzimmer bei den Hausaufgaben.

Erstens: Aus der Grundschule sind die Schüler gewohnt, nach den schriftlichen Hausaufgaben fertig zu sein. „Auf dem Gymnasium ist es wichtig, sich mündlich vorzubereiten: die Stunde zu wiederholen, Vokabeln zu lernen, sich auf Tests vorzubereiten.“ Die Schüler sollten das früh in ihren Alltag integrieren.

Zweitens: Rainer Ammel hält nichts davon, wenn Gymnasiasten die Hausaufgaben gemeinsam mit den Eltern erledigen. „Die Schüler sollten früh lernen, selbstständig zu sein.“ Denn im Gymnasium ist der Wissenstransfer sehr wichtig. Und den schaffen die Schüler in den Klassenarbeiten nur, wenn sie es zu Hause schon geübt haben.

Hausaufgaben konzentriert erledigen

Wer bei den Hausaufgaben nicht in Stress geraten will, sollte Spitzen vermeiden. Dazu braucht es Regelmäßigkeit. Also: Jeden Tag etwas tun – und zusätzlich zum normalen Pflichtpensum noch lernen. Rainer Ammel rät, täglich zwei Stunden für schriftliche und mündliche Hausaufgaben plus Lerneinheiten einzuplanen.

Dabei sollten die Schüler schriftliche und mündliche Aufgaben abwechselnd erledigen. „Das machen tatsächlich wenige. Es ist aber eine blöde Angewohnheit, erstmal alles Schriftliche und dann das Mündliche zu erledigen“, sagt der Experte. Denn: Wer das Mündliche erst zum Schluss erledigen will, ist dann schon müde und unkonzentriert oder verschiebt, also schludert, es ganz. „Wenn schriftliche und mündliche Aufgaben abgewechselt werden, werden im Gehirn unterschiedliche Leistungsbereiche aktiviert – und es bleibt letztlich viel mehr Wissen hängen.“

Richtig auf Klassenarbeiten vorbereiten

Zusätzlich zu den täglichen Lerneinheiten steht natürlich die Vorbereitung auf spezielle Klassenarbeiten an. Damit sollte man mindestens eine Woche vorher anfangen. Als erstes sollte der Schüler sich strukturieren und eine Stoffsammlung machen – also alle Themen auflisten, die in der Arbeit vorkommen könnten. „Die Themen sollte man gleichmäßig auf die Tage verteilen und in Ruhe nach und nach abarbeiten“, rät Rainer Ammel. Wichtig: Alle Fehler in einer speziellen Liste sammeln. „Am letzten Tag vor der Prüfung schaut man sich dann nur noch die Fehlerliste an und bereitet sich auf die schwierigen Themen vor“, sagt Ammel.

Tipps gegen Prüfungsangst

„Oft sprechen Schüler von Prüfungsangst, wenn eigentlich gar keine vorliegt“, sagt Rainer Ammel. Denn: Wer durch kurzfristiges Lernen tagelang gestresst war oder sich nicht genügend Grundwissen angeeignet hat, kann in der Klassenarbeit nicht gelassen auf eine veränderte Aufgabenstellung reagieren. Der Schüler gerät in Panik – der Blackout ist vorprogrammiert.

Wer allerdings früh mit dem Lernen angefangen hat und ausreichend Grundwissen besitzt – dann in der Prüfung aber trotzdem Probleme bekommt, sollte es zunächst mit Entspannungstechniken wie autogenem Training probieren. „Wer solche Techniken zu Hause regelmäßig trainiert, wird sie auch in der Prüfung anwenden können“, sagt Ammel.

Ein Problem sei auch, dass viele Schüler sich zu lange mit Aufgaben aufhalten würden, bei denen sie nicht weiterkommen. „Die Schüler müssen lernen, diese Aufgabe abzubrechen und an anderer Stelle weiterzumachen. Sonst verlieren sie zu viel Zeit.“ Das könne man bei den Hausaufgaben trainieren.

Außerdem sollten ängstliche Schüler sich vor den Klassenarbeit von anderen ängstlichen Schülern fernhalten. Stattdessen kann man sich vor der Prüfung in eine ruhige Ecke zurückziehen oder Kontakt zu entspannten Schülern suchen. Allerdings: Wer wirklich unter Prüfungsangst leidet, sollte Hilfe bei Psychologen suchen.