AboAbonnieren

Wort zum SonntagWarum die Kirche wieder „ganz unten anfangen“ sollte

Lesezeit 3 Minuten
Jesus von Boticelli

Jesus von Boticelli

Hartmut Kriege von der katholischen Kirchengemeinde St. Nikolaus in Bonn macht sich Gedanken zum Selbstverständnis der Kirche und dem Wandel.

Die Kirche müsse zum „Feldlazarett“ werden. Zu einem Ort, wo man „einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder Diabetes“ fragt, sondern wo man „seine Wunden“ heilt. Man müsse wieder „ganz unten anfangen“. So hatte Papst Franziskus bereits vor 10 Jahren gefordert und damit seine Zeitenwende für die Kirche angemahnt: Sie müsse dorthin gehen, wo die Menschen „leben, wo sie leiden, wo sie hoffen“.

Dieses Denken ist das absolute Gegenstück zur einer bis dahin alles beherrschenden Vorstellung, welche die Kirche als „signum levatum in nationes“, als hocherhabenes göttliches Zeichen unter den Völkern beschrieb. Diese Haltung hat auch das Konzil von 1962 nicht unterlaufen können. Denn entgegen den konziliaren Tendenzen des „aggiornamento“ hatte das neubelebte altkonservative Denken für Jahrzehnte das Wohlwollen von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Mit der Folge: Jubel auf der einen Seite, anhaltende Kirchenaustritte auf der anderen, vor allem unter der Jugend, was bis in den Nachwuchs an geistlichen Berufen zurückschlägt. Die Seelsorge im klassischen Sinn ist Geschichte.

Was in den Beratungen des Konzils von 1870 aufrichtig gemeint war, erscheint heute wie aus der Zeit gefallen. Für den Papst aus Lateinamerika jedenfalls gleicht die Kirche einem zentralen Notaufnahmelager für die Opfer der Schlachten und Katastrophen unserer Tage. Die fundamentale Akzentverschiebung ist nicht zu überhören: herunter vom hohen Ross der „Klerikerkirche“ hin zu einer Kirche mit Bodenhaftung, zurück zu einer Kultur des Begleitens und Heilens, ohne die „Transzendenz“ aus den Augen zu verlieren.

Das „Volk Gottes“ brauche „Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker“, interpretiert der Jesuit Antonio Spadaro das Denken seines päpstlichen Ordensbruders. Der Papst fordere kein plattes „Gutmenschentum“, sondern eine Rückkehr zu einem Evangelium „senza glossa“, ohne Zusätze und Überlagerungen. Mit der Folge, dass in der Amtszeit des Papstes „die traditionalistische Ausrichtung der Kirche an ihr Ende gekommen“ sei, meint Wolfgang Beinert, Dogmatiker und früherer Assistent Josef Ratzingers an der Universität Regensburg.

Beinert ruft in Erinnerung, dass in den ersten 1500 Jahren der Kirchengeschichte die missionarische Dynamik des Christentums „zu äußerst fruchtbaren und spannungsvollen Amalgamen von Evangelium und Kultur (Antike, Germanentum) geführt haben“, eine Dynamik, die mit der Gegenreformation und ihren Folgen zusammengebrochen sei.

Die Konfliktherde und Naturkatastrophen, die nach einer Periode trügerischen Friedens verstärkt gerade wieder in Europa Tausende Opfer und Leben kostet, könnte ein Hinweis sein, dass der „Option für die Armen“, die so lange die Diskussionen ohne tiefgreifende Konsequenzen bestimmt hat, nun einer „Option für das Leben“ Platz macht und dem Bild des umfassend agierenden „Samariters“ Priorität einräumt.