Joachim Gerhardt ist Pfarrer an der Lutherkirche in Bonn. Er macht sich Gedanken zum Antisemitismus in der Gesellschaft und zu Fehlern der Vergangenheit.
Wort zum SonntagGeschichte muss sich nicht wiederholen, es liegt an uns
„Wir erinnern uns.“ Der 27. Januar ist der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz. Ich lese den Schriftzug in der englischen Version „#WeRemember“ derzeit vielfach im Internet, in den Sozialen Medien.
Wir erinnern uns an sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Jede Erinnerung hält Menschen lebendig und sie lässt uns die Gegenwart bewusster wahrnehmen. Darum ist dieser Tag immer auch ein Anlass, in meinem eigenen Umfeld die Augen, Ohren und den Verstand zu schärfen: Wo erlebe ich heute Antisemitismus und Rassismus?
Geschichte muss sich nicht wiederholen. Auch wenn das mit Blick auf die vielen Kriege und Gewalttaten in der Welt derzeit wie ein frommer Wunsch klingt. Es hängt an uns Menschen, an jedem von uns, ob ich bereit bin, mich daran zu erinnern, was dem Leben Vernichtung und Zerstörung bringt, und daraus Konsequenzen zu ziehen.
„Ich erinnere mich“, sagt mir eine Frau, 92 Jahre alt, die trotz Eis und Schnee vergangenen Sonntag auf den Marktplatz meiner Stadt Bonn zur großen Kundgebung für Demokratie und Menschenwürde gekommen ist. „Ich habe erlebt, wie Nationalismus und Rechtsextremismus so viele Menschen mit Gewalt und Krieg ins Unglück gestürzt haben und das möchte ich nicht wieder erleben und meine Kinder und Enkel bitte auch nicht.“
Diese Frau macht mir Mut, dass sich Geschichte eben nicht gnadenlos wiederholen muss. Der Mensch kann lernen, auf die Straße gehen und Widerstand leisten, wenn die Zeit danach ruft. Mit der Erinnerung fängt es an. Und es tut gut, das auch mutig öffentlich zu tun. Denn dann spürt man, ich bin nicht allein. Darum heißt es auch nicht nur „Ich erinnere mich“, sondern „Wir“. Tun wir es gemeinsam.