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Wende bei BachmutWas lokale Gegenangriffe mit der großen Offensive zu tun haben

Lesezeit 5 Minuten
Bachmut unter russischem Feuer: Dieses Foto stammt von Ende April. Jetzt könnten ukrainische Gegenangriffe Entlastung für die Verteidiger der Stadt bringen.

Bachmut unter russischem Feuer: Dieses Foto stammt von Ende April. Jetzt könnten ukrainische Gegenangriffe Entlastung für die Verteidiger der Stadt bringen.

Bei Bachmut haben die ukrainischen Truppen die russischen Invasoren zurückgedrängt. Bei russischen Bloggern wächst Panik: Beginnt jetzt die ukrainische Gegenoffensive? Oder läuft sie nicht schon längst?

Diesmal keine „Geste des guten Willens“, sondern eine andere Erklärung: Mit mehr als tausend Soldaten und 40 Panzern habe die Ukraine 26 Angriffe „in der taktischen Richtung Soledar“ ausgeführt, erklärt der russische Generalstab. Die habe man alle zurückgeschlagen, es gebe keine Durchbrüche. Aber man habe an einer Stelle „eine neue strategische Linie besetzt mit Rücksicht auf die vorteilhaften Bedingungen des Berchowka-Stausees“. Der liegt allerdings deutlich östlich der bisherigen Front. Die „Gesamtlage“ sei unter Kontrolle, hieß es am Vortag noch aus demVerteidigungsministerium. Aber ist die Lage vielleicht lokal außer Kontrolle geraten?

Wie ist die Lage bei Bachmut?

Seit Dienstag mehren sich Meldungen über ukrainische Geländegewinne nahe der ostukrainischen Stadt Bachmut, die Russland seit fast einem Jahr einzunehmen versuchte. Die Meldung vom Dienstagabend – abgesetzt unter anderem von Wagner-Söldnerführer Jewgeni Prigoschin, deutlich später in Kiew bestätigt – bezog sich auf Gelände südlich der Stadt. Dann folgten Hinweise auf ein Vorrücken im Norden. Ziel könnte das erst im Januar von Russland eroberte Soledar sein. Berchiwka – so der ukrainische Name des Orts am Stausee – wäre ein Etappenziel.

In der Stadt Bachmut selbst gab es noch am Samstag minimale Geländegewinner der russischen Invasoren. Die ukrainischen Vorstöße betreffen die Flanken im Süden und Norden. Bis zum Freitag hatten die Ukrainer hier rund 17 Quadratkilometer zurückerobert. Die Kämpfe gingen übers Wochenende weiter, Meldungen russischer Blogger über ein weitere ukrainisches Vordringen vor allem im Südwesten von Bachmut ließen sich aber bisher nicht unabhängig bestätigen, so das Institute for the Study of War (ISW). Bei Klischtschijiwka hat die ukrainische Armee und nach Angaben von Militärbloggern beider Seiten drei russische Oberste getötet. In zwei Fällen hat das russische Verteidigungsministerium den Tod bestätigt. Ob die ukrainischen Truppen hier aber auch Gebietsgewinne erzielt haben, ist unklar.

Welche Folgen hat das ukrainische Vordringen?

Das ISW spricht von „lokalen Gegenangriffen“, die einige russische Linien durchbrochen hätten. Das nimmt Druck von den Verteidigern im Stadtgebiet. Zudem schützt die Ukraine so die bisher ständig bedrohte Zufahrtstraße, die vom Westen, von Tschassiw Jar, nach Bachmut führt. Bei einem weiteren Vordringen Richtung Berchiwka könnte die Ukraine zudem die Kontrolle über einen Abschnitt der Fernstraße M03 zurückerlangen, die nördlich an Bachmut vorbeiführt. So sänke die Gefahr für die Großstädte Slowjansk und Kramatorsk.

Der im schottischen St. Andrews lehrende US-Militärhistoriker Phillips O’Brien sieht das Ganze als Bestätigung für den ukrainischen Generalstabschef Walerij Saluschnyj. Der hielt trotz viel Kritik und hoher Verluste daran fest, die Angreifer bei Bachmut zu binden. Ob die Ukraine mehr vorhat, etwa den Versuch eines Zangenangriffs, ist unklar.

So oder so spitzt sich nun die Auseinandersetzung zwischen dem regulären russischen Militär und Wagner-Söldnerführer Jewegni Prigoschin zu. Schon am Dienstag hatte Prigoschin die 72. Brigade der russischen Armee und die konkurrierende Söldnertruppe des Staatskonzerns Gazprom angegriffen, die Positionen aufgegeben hätten, für die 500 seiner Leute gestorben seien. Am Donnerstag merkte der Wagner-nahe Blog Rybar süffisant an, nun werde die russische Armee gewiss das Notwendige veranlassen. Prigoschin lud Verteidigungsminister Sergej Schoigu höhnisch nach Bachmut ein. Am Freitag widersprach er dem Generalstabs-Bericht über die angebliche Einnahme günstigerer Positionen und sprach von Flucht. Die russische Armee, meint das ISW, habe bei Bachmut angesichts der Risiken an anderen Frontabschnitten „depriorisiert“.

Ist das jetzt der Beginn der großen Gegenoffensive?

Ja, behauptet jedenfalls Prigoschin. Die Ukraine habe ihre Großoffensive gestartet. Bei proukrainischen Bloggern breitet sich Euphorie aus. Russische Telegram-Kanäle bringen vermeintliche Schreckensnachrichten über eine drohende Dnipro-Überquerung. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt dagegen, für einen Großangriff sei es noch zu früh. So sehen es auch Westliche Analysten. „Die ukrainische Armee wird angreifen, wenn sie dafür bereit ist, sie wird Ort und Zeit wählen“, hat der pensionierte US-General Mark Hertling getwittert: „Das hier ist kein Videospiel.“

Den großen, am Ende ausschlaggebenden Angriffen geht eine langwierige Vorbereitung voraus. Einerseits, so Hertling, seien die Ukrainer noch damit beschäftigt, ihre in verschiedenen Ländern ausgebildeten Truppen zu einem großen Ganzen zu machen. Hinzu kommt ein von Militärs zynisch als „shaping“, als „Formen“ des Kampfgebiets bezeichneter Prozess: Attacken auf Stellungen, Infrastruktur und Versorgungswege, Aufklärungsmaßnahmen, Tests der gegnerischen Abwehr. Insofern läuft die Offensive schon, und dazu gehört es auch, Verwirrung zu stiften: Vermeintlich allerorten drohen aus russischer Sicht ukrainische Durchbruchsversuche. Aber woher sollen die Soldaten kommen, um ihnen zu begegnen?

Die Besatzer haben über 900 Kilometer Front zu sichern. Nach einer Rechnung des italienischen Militäranalysten Thomas Theiner wären schon für 30 Kilometer 90 000 Soldaten – 54 000 an der Front, 36 000 in der Reserve – erforderlich. Russland habe aber höchstens 360 000 Soldaten im Nachbarland, davon 180 000 Infanteristen. Viel zu wenig auch nur für die 300 aus russischer Sicht besonders gefährdeten Kilometer im Süden.

Anfang der Woche sollten bei Bachmut offensichtlich zwei stark ausgedünnte Kompanien, weniger als 200 Leute, auf drei Frontkilometer aufpassen. Und das war Durchschnitt. 2400 Kilometer lang sei das russische Befestigungssystem hinter der Front, twittert Theiner. Aber wer soll die Gräben besetzen? Bei 180 000 Infanteristen habe Russland gerade mal 75 Leute für jeden Kilometer. Die Ukraine kann jeden Frontabschnitt aus dem Zentrum des Landes heraus binnen Stunden erreichen. Russland müsste Verstärkungen auf quälend langen Wegen verlegen. Wohin auch immer, wenn die große Angriffswelle kommt.