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Wahlen in der TürkeiSo gefährlich wird das Erdbeben für Erdogan auf politischer Ebene

Lesezeit 4 Minuten
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seinem Besuch in Kahramanmaras im Südosten der Türkei.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seinem Besuch in Kahramanmaras im Südosten der Türkei.

Die Erdbebenkatastrophe im Südosten der Türkei könnte Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den Wahlen im Mai das Amt kosten – und das weiß er. Gründe für Vorwürfe an seine Person gibt es viele.

Bei seinem ersten Besuch im Unglücksgebiet gab sich der 68-jährige am Mittwoch als Landesvater, der dafür sorgt, dass Opfer behandelt und Überlebende in Hotels an der türkischen Riviera untergebracht werden. Innerhalb eines Jahres würden Sozialwohnungen für alle Überlebenden gebaut, versprach Erdogan. Damit wollte er dem Unmut vieler Erdbebenopfer in der Region begegnen, doch das dürfte angesichts der Verzweiflung und Verärgerung nicht reichen. Die türkische Opposition jedenfalls sieht ihre Stunde gekommen: Sie wirft Erdogan vor, er trage die Hauptverantwortung für das Ausmaß der Katastrophe, weil seine Regierung auf Erdbebenvorsorge gepfiffen habe.

Recep Tayyip Erdogan (M), Präsident der Türkei, spricht mit Betroffenen der Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze bei einem Besuch eines Hilfslagers in der betroffenen Region.

Recep Tayyip Erdogan (M), Präsident der Türkei, spricht mit Betroffenen der Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze bei einem Besuch eines Hilfslagers in der betroffenen Region.

Erdogan besuchte die schwer getroffene Stadt Kahramanmaras nahe des Epizentrums des Bebens und versuchte den Opfern Mut zu machen. Der Staat habe alle Kräfte für die Hilfe mobilisiert, sagte er. Mehr als ein paar Probleme am ersten Tag nach dem Unglück habe es nicht gegeben. Jetzt laufe es immer besser mit der Hilfsaktion. Doch Hoffnung zu verbreiten, fiel ihm angesichts der Zerstörung um ihn herum schwer, zumal er während des Besuches neue Opferzahlen verkünden musste: Mehr als 8000 Menschen sind demnach tot, knapp 50000 wurden verletzt, 6444 Gebäude wurden zerstört.

Kippt die Stimmung?

Bis zum Beben am frühen Montagmorgen hatte es gut ausgesehen für Erdogans Wahlkampf. Trotz hoher Inflation waren seine Beliebtheitswerte zuletzt gestiegen, staatliche Milliardenausgaben für höhere Mindestlöhne und einen leichteren Einstieg in die Frührente zeigten ihre Wirkung in den Umfragen. Die Opposition agierte ungeschickt und hilflos, auch weil sie sich drei Monate vor den Wahlen noch nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigen konnte. Die Katastrophe hat alles verändert. 1999 versagte die damalige Regierungskoalition bei der Antwort auf ein schweres Erdbeben bei Istanbul und verlor drei Jahre später die Macht an Erdogan. Jetzt könnte sich die Stimmung im Land gegen den Präsidenten wenden, wenn der Eindruck entsteht, seine Regierung bekomme die Lage nicht in den Griff.

Und dieser Eindruck verbreitet sich derzeit schnell. Auch am Mittwoch lagen noch tausende Menschen unter den Trümmern ihrer Häuser. „Warum wird hier nicht gearbeitet?“, fragte der Oppositionsabgeordnete Ömer Faruk Gergerlioglu vor einem zerstörten Gebäude in der schwer zerstörten Stadt Malatya. „Hier gibt es niemanden, hier gibt es keinen Staat“, lautete die Antwort eines Erdbebenopfers, wie ein Video von Gergerlioglu zeigte.

Vielerorts warten Menschen vergebens auf Hilfe

Aus anderen Gegenden des riesigen Erdbebengebietes gab es ähnliche Berichte. Menschen warteten auf Bergungstrupps, die nicht kamen, fanden in den kalten Nächten keine Bleibe, suchten vergeblich nach Nahrung und Wasser. Die Journalistin Nevsin Mengü zeigte auf ihrem Twitter-Konto Aufnahmen von Leichen auf einer Straße. Staatliche Behörden schienen von der Dimension des Unglücks überfordert zu sein. Das Katastrophenschutzamt Afad erklärte am Mittwoch, alle Leichen von Todesopfern, die nicht innerhalb von 24 Stunden von Familienangehörigen abgeholt werden könnten, würden ab sofort von den Behörden beigesetzt.

Erdogan bei seinem Besuch im Südosten der Türkei.

Erdogan bei seinem Besuch im Südosten der Türkei.

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der bei der Präsidentenwahl im Mai gegen Erdogan antreten will, wartete zwei Tage ab, bevor er seinen Wahlkampf im Trümmerfeld gegen Erdogan eröffnete. Unmittelbar nach dem Unglück vom Montag und auch bei einem Besuch im Katastrophengebiet hielt sich Kilicdaroglu mit öffentlichen Äußerungen zurück, um sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, politisches Kapital aus einer nationalen Tragödie schlagen zu wollen.

Beben in der Türkei: Schwere Vorwürfe gegen Präsident Erdogan

Erst kurz vor Erdogans Besuch in Kahramanmaras ging Kilicdaroglu zum Angriff über. In einem Video machte er dem Präsidenten schwere Vorwürfe. Schuld an den vielen Toten sei die Regierung Erdogan, die es in 20 Jahren an der Macht versäumt habe, das Land auf die absehbare Katastrophe vorzubereiten, sagte Kilicdaroglu in dem Twitter-Video, das bis Mittwochnachmittag fast zwölf Millionen Mal angeschaut wurde. Damit spielte Kilicdaroglu auf den weit verbreiteten Pfusch am Bau in der Türkei an. Außerdem habe Erdogan die Milliarden-Einnahmen aus der Erdbeben-Steuer von Hausbesitzern regierungsnahen Unternehmen in den Rachen geworfen. „Das Geld ist weg“, sagte Kilicdaroglu.

Andere Regierungsgegner veröffentlichten im Internet lange Listen von Parlamentsentscheidungen, mit denen Erdogans Regierungspartei AKP und deren nationalistische Partnerin MHP alle Anträge der Opposition auf eine bessere Erdbebenvorsorge abgelehnt hätten. Kilicdaroglu lehnte Erdogans Aufruf zur nationalen Einheit nach dem Erdbeben demonstrativ ab.

Erdogans Antwort darauf lautet, Bürger und Medien sollten nur auf offizielle Mitteilungen zum Erdbeben hören und nicht auf „Provokateure“. Schon am Vortag hatte Erdogan gesagt, seine Regierung verfolge genau, was an „Falschnachrichten“ verbreitet werde. Zu gegebener Zeit werde abgerechnet, warnte er. Der Präsident hat einen dreimonatigen Ausnahmezustand über das Unglücksgebiet verhängt, mit dem er unter anderem Wahlkampfveranstaltungen unterbinden kann. Erdogan mag durch das Erdbeben in die Defensive geraten sein – geschlagen gibt er sich noch lange nicht.