Die ukrainische Armee hat es geschafft, auf dem Ostufer des Dnipro Positionen gegenüber der schon im November befreiten Stadt Cherson einzunehmen. Was hat sie konkret damit erreicht?
Vorstoß bei ChersonUkrainer am linken Dnipro-Ufer: Hat die große Offensive begonnen?
Tagelang haben Analysten des Washingtoner Institute for the Study of War (ISW) gezögert, jetzt haben sie die Nachricht bestätigt: Während alle Welt auf Bachmut blickt, wo die ukrainischen Verteidiger einen großen Teil der russischen Truppen binden, erzielt die Armee des überfallenen Landes im Süden offenbar Erfolge. Zum ersten Mal seit Ende Februar 2022 hält sie Positionen am linken, östlichen Ufer des Dnipro gegenüber der Bezirkshauptstadt Cherson.
Was ist bei Cherson passiert?
Seit der Rückeroberung Chersons hatte sich der Frontverlauf kaum geändert. Von Wassyliwka am Kachowkaer Stausee bis zur Kinburn-Nehrung im Mündungsgebiet blieb das linke Ufer des Dnipro in russischer Hand. Die Ukraine griff russische Stellungen an und schickte Soldaten per Boot zu Kommandoaktionen aufs linke Ufer. Die schlugen zu und zogen sich wieder zurück. Flussinseln bei Cherson sind schon länger umkämpft, nun aber bestätigen von russischen (!) Bloggern verbreitete Daten: Ukrainische Einheiten stehen auf dem Festland gegenüber der Stadt Cherson. Sie sind von Norden her bis an den Rand von Oleschky (vor dem Krieg 25 000 Einwohner) vorgedrungen.
Was hat die Ukraine erreicht?
Wie viel Gebiet die Ukrainer inzwischen auf dem Festland kontrollieren, ob sie es dauerhaft halten können und wollen und ob Russland auf den Flussinseln noch Truppen hat, vermag das ISW nicht zu sagen. Russische Blogger meinen, die Ukraine verfüge inzwischen über stabile Nachschublinien und unternehme weitere Vorstöße. Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz warnt dagegen vor Spekulationen über ukrainische Aktionen. Ein Dorf, Dachi, westliche dessen die Ukrainer laut ISW stehen, liegt neben dem Ostende der zerstörten Antoniwka-Brücke, wenngleich ein russischer Blogger es so darstellt, dass Russland in der Nähe noch einen Geländestreifen kontrolliere.
Beginnt die Großoffensive?
Seit Monaten sorgt die Aussicht auf eine große Frühjahrsoffensive der Ukraine im Westen für gespannte Erwartung, bei russischen Bloggern für Nervosität und bei Meteorologen für Spekulationen, wann die „Rasputiza“, die Schlammperiode, endlich vorbei ist. Aber was genau erwarten sie alle? „Wir werden erst merken, dass diese Offensive stattgefunden hat, wenn sie fast vorbei ist“, hat der in der Schweiz lehrende Militärökonom Marcus Matthias Keupp vergangene Woche im ZDF gesagt. Große Panzervorstöße würden, wenn überhaupt, am Ende der Offensive stehen und nicht am Beginn.
So gesehen könnte man sagen: Die Offensive läuft bereits, und zwar seit Wochen. Mit Raketen- und Drohnenangriffen auf russische Basen bis hinunter zur Krim. Mit Kommandoaktionen nicht nur am Dnipro. Jetzt mit der Besetzung von Gelände. Ähnlich begann die Cherson-Offensive seit Sommer 2022.
Wie geht es weiter?
Was die Ukraine am Dnipro vorhat, ist schwer abzusehen. Noch besteht kein Brückenkopf, der den Kampf gegen Artilleriestellungen erleichtern könnte, von denen aus Russland zivile Einrichtungen in Cherson angreift. Wird daraus mehr? Ohne festen Übergang müssen die Ukrainer jeden Soldaten, jedes Fahrzeug, jede Kiste Proviant und Munition per Boot über den Dnipro befördern. Keine gute Basis für einen Großangriff Richtung Osten.
Das würde sich ändern, wenn die Ukrainer die Reste der Antoniwka-Brücke wirklich kontrollierten: In deren schützendem Schatten ließe sich – das hatte die russische Armee im Herbst vorexerziert – eine Pontonbrücke anlegen. Die Ukraine könnte zudem versuchen, den Dnipro-Staudamm von Nowa Kachowka einzunehmen. Für einen anschließenden Vorstoß vom Dnipro-Ufer aus tiefer ins russische Besatzungsgebiet spräche: Hier sind die russischen Gräben, Panzersperren und Minenfelder weniger dicht als weiter östlich in den Bezirken Saporischschja, Donezk und Luhansk. Aber die Voraussetzungen für so einen Angriff müsste die Ukraine eben noch schaffen. Und sie hätte bei 930 Kilometern Frontlänge auch andere Möglichkeiten. Vielleicht dienen die Aktionen bei Oleschky da eher der Ablenkung.