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Vorbild ChinaBekommen wir auch bald Bonuspunkte für „gutes Verhalten“

Lesezeit 4 Minuten
Bonuspunkte in China

Im ostchinesischen Rongcheng sind auf Postern die Porträts von „Modellbürgern“ ausgestellt.  

  1. Benimm dich so, wie es der Staat möchte, und du bekommst Vergünstigungen: China experimentiert seit Jahren mit diesem Modell. Im Westen undenkbar?
  2. Ein Bundesministerium wagt ein Gedankenexperiment

Ist ein Sozialpunktesystem nach chinesischem Vorbild auch in Deutschland denkbar? Eine neue Studie des Bundesbildungsministeriums spielt diese Möglichkeit durch. Unter dem Titel „Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“ gehen die Forscher möglichen Zukunftsperspektiven für Arbeit und Gesellschaft in Deutschland nach.

Darin beschreiben sie auch ein Bonuspunkte-Modell, von dem der Zugang zu Ressourcen wie Arbeits- oder Studienplätzen abhängig sein könnte – ein System, wie es heute bereits in der Volksrepublik getestet wird.

Einleitend heißt es in der Studie: „Die Aufgabe von strategischer Vorausschau ist es, technologische, ökonomische, rechtliche oder geopolitische Entwicklungen frühzeitig zu antizipieren, sie zueinander in Beziehung zu setzen und mögliche Bruchlinien zu identifizieren.“ Das Portal RT Deutsch und die „Welt“ berichteten zuerst über das Papier.

Punkte sammeln, vorwärtskommen

Unter der Frage „Was wäre, wenn...“ entwickelt die Studie, die unserer Redaktion vorliegt, folgendes Szenario: „In den 2030er-Jahren übernimmt ein digitales, partizipativ ausverhandeltes Punktesystem eine zentrale politisch-gesellschaftliche Steuerungsfunktion.“ Die dahinter stehende Idee: Jeder Mensch würde abhängig von seinem Verhalten einen „sozialen Punktestand“ bekommen, der dann etwa bei der Vergabe von Jobs oder Studienplätzen eine entscheidende Rolle spielen könnte.

Konkret heißt es in dem Papier: „Für bestimmte Verhaltensweisen können im Punktesystem, das vom Staat betrieben wird, Punkte gesammelt werden (z. B. Ehrenamt, die Pflege Angehöriger, Organspenden, Altersvorsorge, Verkehrsverhalten, CO2-Abdruck). Neben der sozialen Anerkennung ergeben sich durch das Punktesammeln auch Vorteile im Alltag (z. B. verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge).“

Wie aber lassen sich die „richtigen“ Regeln für das Zusammenleben festlegen, wer entscheidet darüber? Dazu heißt es in der Studie: „Somit können Staat und politische Institutionen bestimmte Ziele über Anreize zur Verhaltensänderung verwirklichen (z. B. Steuerung des Arbeits- und Bildungsmarkts) und auch zukünftiges Verhalten genauer prognostizieren.“ Aber auch die Bürger bringen demnach in der sogenannten „Digital Liquid Democracy“ – also einer Demokratie, die sich auf digitale Teilhabe stützt – Themen auf die Agenda und stimmen über kritische Fragen ab. Weiter schreiben die Forscher: „Unternehmen haben die Möglichkeit, an das Punktesystem anzudocken und die Daten nach vorheriger Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger (etwa personalisierte Risikoprämien) zu monetarisieren. “

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Die Zustimmung in der Bevölkerung zum Gesetz, so nimmt es die Zukunftsstudie zudem an, würde durch „die Dynamik des Klimawandels“ steigen. Formuliert als fiktiver Rückblick aus der Zukunft, heißt es: „Dies erzeugte Handlungsdruck zum Gegensteuern, wobei sich ein Punktesystem als effizienter Steuerungsmechanismus zum Umgang mit den Folgen des Klimawandels entpuppte (z. B. durch Punktebewertung des ökologischen Fußabdrucks). Das Verursacherprinzip wurde durch das Punktesystem transparent gemacht. Zudem erwies sich das Punktesystem angesichts der guten wirtschaftlichen Situation als ein geeignetes Instrument für den Arbeitsmarkt, der von Fach- und Arbeitskräftemangel geprägt ist.“

Realistischer, als man denkt

Ganz aus der Luft gegriffen, so die Studie, könnten solche Szenarien nicht sein, denn, so die Vorhersage: „Das Punktesystem stößt bei einer Mehrheit der Bevölkerung in den 2030er-Jahren auf Zustimmung, da es nach dem Empfinden vieler in einer komplexeren und ausdifferenzierteren Gesellschaft eine verbindende Orientierungsfunktion für verschiedene gesellschaftliche Gruppen einnimmt.“ Zudem würden im Deutschland der 2030er-Jahre durch das Punktesystem als Prognose- und Steuerungswerkzeug schrittweise neue Normen im Alltag verankert. Das Sozialpunktesystem würde dann nur noch von einer Minderheit angefeindet.

„Wenn wir nichts tun, wird eines Tages ein Unternehmen oder eine staatliche Institution die verschiedenen Datenbanken zu einem einzigen Sozialkredit-System zusammenführen“, zitiert die Studie den Psychologe Gerd Gigerenzer als kritische Stimme – und weist darauf hin, dass es bereits heute erste Ansätze dafür gibt, beispielsweise bei der privat-staatlichen Schufa (zum Beispiel Geoscoring) und verschiedenen Telematik-Tarifen.

Umfragen zeigen, dass schon heute etwa ein Fünftel der Bevölkerung solch ein Szenario unterstützen würde. Oft ist es demnach die „Bequemlichkeit“, die persönliche Datensicherheit und Freiheit dabei schlägt.

Es klingt nach „1984“, George Orwells Vision eines totalen Überwachungsstaats. In China ist die digitale Version von Zuckerbrot und Peitsche schon Realität. Könne auch bei uns ein System entstehen, in dem der Staat Wohlverhalten registriert und mit Sozialpunkten belohnt?

So funktioniert das Sozialkreditsystem

Erfassung, Überwachung und Bewertung des Verhaltens von Bürgern, Organisationen und Unternehmen: Diesen Zielen soll das sogenannte Sozialkreditsystem dienen, das die chinesische Regierung seit 2014 plant und bis Ende 2020 landesweit einführen wollte. Wegen der Corona-Pandemie ist der Start auf unbestimmte Zeit verschoben. Allerdings laufen in mehreren Städten und Regionen Chinas teils seit Jahren Pilotprojekte.

Das digitale System erhebt und speichert nicht nur personenbezogene Daten, sondern auch Informationen etwa zur Berufstätigkeit und zum sozialen Verhalten. Wer sich gemäß der vom Staat festgelegten Normen verhält und zum Beispiel Freiwilligendienste leistet oder kranke Angehörige pflegt, sammelt Punkte und erhält Vergünstigungen, etwa im öffentlichen Nahverkehr oder bei der Erteilung von Visa. Wer dagegen Ordnungswidrigkeiten begeht oder Kritik an der Regierung übt, wird mit Punktabzügen bestraft. Konsequenz können Reiseverbote, verzögerte Beförderungen oder Kündigungen sein. (EB)