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Ukrainische Kursk-OffensivePutin muss zwischen zwei Gefahren wählen

Lesezeit 8 Minuten
In diesem von den ukrainischen Streitkräftenam 18.08.2024  veröffentlichten Bild ist die Zerstörung einer wichtigen Brücke in der russischen Region Kursk zu sehen.

Zerstörung einer Brücke über den Fluss Sejm: Das vom ukrainischen Verteidigungsministerium am Sonntag verbreitete Foto dürfte einen Angriff im Dorf Zvannoe zeigen.

Zwei Wochen nach Beginn kommt die ukrainische Offensive im russischen Bezirk Kursk nur noch langsam voran - und Zweifel am Sinn des Unternehmens bleiben. Was kann die Ukraine trotzdem erreichen?

Das war die dritte Brücke: Die ukrainische Luftwaffe hat am Montag erneut am Fluss Sejm im russischen Gebiet Kursk zugeschlagen. Bei Karysch hat sie die letzte intakte Brücke beschossen, die das linke Flussufer nahe der ukrainischen Grenze mit dem übrigen russisch kontrollierten Gebiet verband. Sollte sie nicht mehr funktionstüchtig sein, dann kann Wladimir Putins Streitmacht auf einem rund 40 Kilometer langen Uferstreifen ihre Soldaten nur noch über Pontonbrücken versorgen (auch die nimmt die Ukraine ins Visier) – und über Reste einer der drei bombardierten Brücken, die angeblich Fußgängern und Pkw die Passage ermöglichen. Was bedeutet das für die ukrainische Offensive im Raum Kursk?

Wie viel russisches Gebiet ist in ukrainischer Hand?

Die Ukraine kontrolliere 1250 Quadratkilometer russischen Territoriums, hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntagabend gesagt. Das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) bezweifelte allerdings von Anfang an, dass die Ukraine tatsächlich diese gesamte Fläche besetzt hält. Der sehr konservativ rechnende Dienst War Mapper sah zuletzt 460 Quadratkilometer fest in ukrainischer Hand, das ISW hielt (Stand Samstag) bei aller Vorsicht mittlerweile rund 800 für möglich – zum Vergleich: Das entspräche 90 Prozent der Fläche des Landes Berlin. Auch wenn der ukrainische Generalstabschef Olexander Syrskyj am Montag eine Karte mit beanspruchten Geländegewinnen vorlegte, ist der tatsächliche Frontverlauf schwer unabhängig einzuschätzen.

Fest zu stehen scheint, dass die Ukraine die russische Grenze auf erheblicher Breite – laut ISW 56 Kilometer – durchbrochen hat. Laut ISW stehen ihre Truppen etwa 28 Kilometer tief in russischem Gebiet. Ebenso unstrittig ist, dass die ukrainischen Vorstöße sich seit Mitte letzter Woche stark verlangsamt haben. Das ukrainische Militär besetzt einzelne Orte, die bisher in der Grauzone zwischen den Fronten lagen. Ändern könnte sich das Bild, wenn die Ukraine am Sejm, also im Norden des Kampfgebiets, Erfolg hätte: Könnte sie die russischen Truppen hier zum Abzug zwingen, dann fielen auf einen Schlag rund 700 Quadratkilometer im grenznahen Gebiet in ihre Hand. Damit käme sie dem von Präsident Wolodymyr Selenskyj ausgerufenen Ziel einer Pufferzone zum Schutz vor russischem Beschuss näher. Allerdings ist der Sejm stellenweise nur gut 50 Meter breit, so dass das komplette Abschneiden der russischen Truppen nicht einfach sein wird.

Wie viele Soldaten sind im Einsatz?

Das ISW zitiert Angaben des „Wall Street Journal“ über etwa 6000 ukrainische Soldaten, denen etwa 5000 Russen gegenüberstünden – die Angaben beziehen sich allerdings auf den Stand vor einer Woche. Mittlerweile, so das ISW, dürften es auf russischer Seite wohl mehr Leute sein.

Beide Seiten nehmen ein erhebliches Risiko in Kauf. Die Ukraine setzt kampferfahrene und reichlich mit westlichem Gerät ausgestattete Soldaten im Gebiet Kursk ein, die eigentlich dringend im Zentrum des Donbass bei Pokrowsk gebraucht würden. Russland treibt in Kursk nur begrenzten Aufwand und versucht mit Wehrpflichtigen, mit eigentlich für den Donbass vorgesehenen Reservetruppen und mit kleineren, abgekämpften und dezimierten Einheiten auszukommen, die von aus russischer Sicht weniger wichtigen Frontabschnitten abgezogen wurden.

Russland priorisiert also Pokrowsk – und kann damit selbst in die Bredouille geraten: Denn in Kursk gewinnt die Ukraine damit Zeit, um ihre Stellungen zu konsolidieren. Ein besonderes Problem dürfte das Städtchen Sudscha darstellen, das die Ukraine zum Zentrum ihrer Besatzungsverwaltung gemacht hat und das die Gas-Messstation beherbergt, über die alle überhaupt noch laufenden Lieferungen von russischem Pipelinegas via Ukraine in die EU erfolgen: Sollte die Gasstation bei einem russischen Gegenangriff zerstört werden, ist das Gazprom-Exportgeschäft mit Österreich, der Slowakei und Ungarn schwer getroffen.

Was passiert aktuell im Donbass?

Für die Ukraine wiederum ist die Lage bei Pokrowsk und auch um die 50 Kilometer davon entfernte Stadt Torezk sehr ernst: Pokrowsk, eine Stadt mit 65.000 Einwohnern, wird komplett evakuiert, aus Torezk sollen 90 Prozent der einst 32.000 Einwohner geflohen sein. Dabei war es laut „Economist“ ein wesentliches Motiv des ukrainischen Angriffs bei Kursk, Entlastung im Donbass zu schaffen. Das hat bisher nicht geklappt.

Die Kämpfe um Pokrowsk sind für die Ukraine allerdings eine Gelegenheit, Russland schwere Verluste beizubringen. Bis Ende letzter Woche hatte Russland nach Daten des Portals Oryx hier 1617 Fahrzeuge und schwere Waffensysteme eingebüßt, die Ukraine nur 319. Bei Kursk ist das Verhältnis für die – hier ukrainischen – Angreifer günstiger: Die Ukraine hatte bis vergangenen Donnerstag 51 solche Systeme verloren, Russland 27, so die Auszählung eines Oryx-Mitarbeiters auf X.

Wenn man bedenkt, dass die russische Armee es seit Jahresbeginn trotz immenser Verluste nur geschafft hat, 1175 Quadratkilometer ukrainischen Bodens einzunehmen, kann man ermessen, welche Schwierigkeiten sie bekommen dürfte, wenn sie eines Tages versuchen sollte, das ukrainische Besatzungsgebiet im Bezirk Kursk zurückzuerobern. So oder so, meint der australische Ex-General Mick Ryan, werde Staatschef Wladimir Putin sich am Ende entscheiden müssen, was für sein Regime gefährlicher ist: Die Offensive gegen Pokrowsk und Torezk aufgeben? Oder russisches Territorium in ukrainischer Hand lassen?

Was könnten die längerfristigen Folgen sein?

Dass die Ukraine im Bezirk Kursk einmarschiert ist und ihre westlichen Partner dies dulden (die USA legen allerdings Wert darauf, keine Aufklärungsdaten geliefert zu haben), birgt für das russische Militär aber noch eine unerfreuliche Botschaft: Russisches Staatsgebiet ist kein sicheres Hinterland mehr, von dem aus sich wie bisher Angriffe auf die Ukraine führen lassen, ohne dass Russland die eigenen Grenzen angemessen sichern müsste. „Russland wird eine sehr lange Grenze sehr stark sichern müssen", hat der Kölner Politologe Thomas Jäger dazu gesagt. Dazu müsse Russland erheblichen personellen und finanziellen Aufwand treiben müssen. Angesichts der Tatsache, dass der weit überwiegende Teil der russischen Bodentruppen bereits in der Ukraine kämpft, werden so andernorts Lücken entstehen.

Noch wichtiger sind nach Ryans Einschätzung die politischen Folgen. Er verweist auf Selenskyjs Ankündigung, er wolle den Kreis der Unterstützer ausweiten. Dafür sei es wesentlich, dass die Ukrainer den eigenen Unterstützern, aber auch den Helfern Moskaus stärker erscheint als bisher – während, das wäre zu ergänzen, der Nimbus des vermeintlich unbezwingbaren Putin Schaden genommen hat. Zudem, so Ryan, habe die Ukraine wieder einmal gezeigt, dass Putins vermeintliche roten Linien nur eine „Schimäre“ zur Einschüchterung des Westens sind. Russische Nukleardrohungen, so der im schottischen St. Andrews lehrende Militärhistoriker Phillips O’Brien, hätten sich endgültig als bedeutungslos erwiesen.

Tatsächlich versucht Putin die ukrainische Invasion ja kleinzureden und bezeichnet die russischen Abwehrbemühungen lediglich als Anti-Terror-Aktion, geführt nicht etwa vom russischen Generalstabschef Waleri Gerassimow, aber auch nicht vom für Terrorabwehr zuständigen Chef des Geheimdienstes FSB Alexander Bortnikow, sondern von Putins früheren Leibwächter Alexej Djumin. Deutlicher lässt sich das durch den ukrainischen Vorstoß verstärkte Misstrauen Putins gegen Militär und FSB kaum zeigen.

Monatelang hat Russland die Ukraine vor sich hergetrieben und bestimmt, wo gekämpft wird. Nun, sagt Jäger, habe die Ukraine entschieden, dass eigenes Handeln wohl besser sei als Nichthandeln. Sie hat die Initiative ergriffen – vermutlich auch in der Hoffnung darauf, dass selbst die massive russische Offensive bei Pokrowsk sich irgendwann erschöpfen wird.

Noch in manch anderer Hinsicht ist die Kursk-Offensive für die Ukraine nützlich. Auch Ryan verweist auf das Ziel der Pufferzone. Zudem könnten die vielen russischen Wehrpflichtigen, die in ukrainische Gefangenschaft geraten, gegen ukrainische Kriegsgefangene in russischer Hand ausgetauscht werden. Ohnehin sorgt der Einsatz 18- bis 19-jähriger Kriegsdienstleistender in Russland für Unruhe.

Dass Putin dagegen theatralisch das Ende aller Verhandlungsbereitschaft verkündet hat, gehört in die Abteilung für zynische Witze – verhandeln wollte er nie, sondern verlangte von der Ukraine komplette politische und militärische Unterwerfung einschließlich massiver Gebietsabtretungen. Die Grundlage dafür ist aber in der Tat entfallen, nun, wo auch die Ukraine russisches Gebiet besetzt hält und eher über einen beiderseitigen Abzug zu reden wäre.

Was könnte die Ukraine noch unternehmen?

Die Kursk-Offensive sei nur der Anfang, „Sie werden noch weitere Stufen dieser Operation sehen“, hat Oleksij Drozdenko gesagt, der Chef der Militärverwaltung der ukrainischen Bezirkshauptstadt Sumy. Allerdings ist er sicher nicht in einer Position, in der er in die Planungen des ukrainischen Generalstabs eingeweiht wäre. Prorussische Blogger raunen von einer bevorstehenden ukrainischen Offensive im Bereich des russisch besetzten Kernkraftwerks Saporischschja – das dürfte aber eine Fortsetzung der Propagandaaktion sein, die mit Aufnahmen von – angeblich durch die Ukraine verursachtem – Feuer an einem Kühlturm (!) begonnen hatte.

Bisher ist die Kursk-Offensive eine eng begrenzte Operation. 6000 ukrainische Soldaten würden bei weitem nicht genügen, um sie auszuweiten. Sie läuft parallel zu anderen ukrainischen Operationen: Luftschlägen gegen russische Militärflugplätze, gegen Stellungen auf der okkupierten Krim, gegen die Ölindustrie. Zuletzt hat ein ukrainischer Drohnenangriff ein staatliches Öllager in Proletarsk bei Rostow am Don in Brand gesetzt. Im Juni meinte der Analyst Sergey Vakulenko noch, die Auswirkungen solcher Angriffe auf die russische Treibstoffproduktion bewegten sich im Rahmen der normalen jahreszeitlichen Schwankungen – jetzt, im August, berichten russische Medien über Lieferengpässe.

„Unsere Hauptaufgabe bei Verteidigungseinsätzen im Allgemeinen besteht darin, so viel russisches Kampfpotenzial wie möglich zu zerstören und maximale Gegenoffensivmaßnahmen durchzuführen“, hat Selenskyj am Sonntag über die Kursk-Offensive gesagt. Sie ist Teil der allgemeinen ukrainischen Strategie, das russische Offensivpotenzial zu zersetzen.