Der erfolgreiche Gefangenenaustausch in der Türkei erhöht den internationalen Stellenwert von Präsident Erdogan. Seine „multidimensionale“ Politik wird anerkannt.
„Schaukelpolitik“?Wie Erdogan zum gefragten Mittler zwischen Ost und West wird
US-Präsident Joe Biden ruft an und bedankt sich, der russische Staatschef Wladimir Putin stellt einen baldigen Besuch in Aussicht: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist nach dem erfolgreichen Gefangenenaustausch von Ankara ein gefragter Gesprächspartner. Erdogan sieht sich in seiner Entscheidung bestätigt, einen Kurs zwischen Ost und West zu steuern. Der Westen kritisiert das als „Schaukelpolitik“, Ankara feiert es als „multidimensional“. Die Türkei dürfte nach dem Erfolg von Ankara noch weniger für Appelle aus Europa und den USA erreichbar sein, sich westlichen Positionen anzuschließen.
Türkei und Erdogan als „diplomatisches Schwergewicht“
Die Türkei habe mit dem Gefangenenaustausch wieder einmal bewiesen, dass sie ein „diplomatisches Schwergewicht“ sei, erklärte Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun am Freitag. Das Land unterhalte „spezielle Partnerschaften mit verschiedenen Ländern in der Welt“. Altun nannte den Austausch von 26 Häftlingen aus sieben Ländern „historisch“.
Die Regierung klopft sich nicht nur auf die Schulter, weil es ihr gelang, viele verschiedene und untereinander verfeindete Akteure unter einen Hut zu bekommen. Sie ist auch sicher, dass es kein anderes Land auf der Welt gibt, das Ähnliches leisten könnte – schon gar nicht im Westen, der alle Kontakte zu Russland wegen des Ukraine-Krieges abgebrochen hat. Erdogan dagegen trifft sich regelmäßig mit seinem „werten Freund“ Putin, zuletzt kam er vor einem Monat in Kasachstan mit dem Kremlchef zusammen. „Die Türkei hat gezeigt, dass sie mit verschiedenen Parteien als vertrauenswürdiger und verlässlicher Partner sprechen kann“, sagt Altun.
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Erdogans Regierung kann auf konkrete Beweise dafür verweisen, dass sie nicht nur mit Russland zusammenarbeitet, sondern auch mit der Ukraine. Am selben Tag, an dem in Ankara der Gefangenenaustausch abgewickelt wurde, lief in Istanbul ein türkisches Kriegsschiff für die Ukraine vom Stapel. Es war die zweite Korvette dieser Art – die andere ist bereits im Testeinsatz der ukrainischen Marine im Schwarzen Meer unterwegs. Ebenfalls am Donnerstag vereinbarte die Türkei mit der Ukraine ein Freihandelsabkommen. Von einem „Meisterstück“ spricht Türkei-Experte Soner Cagaptay von der US-Denkfabrik Washington Institute. Kurz vor dem Gefangenenaustausch hatte Erdogan den Zorn westlicher Politiker auf sich gezogen, indem er eine militärische Unterstützung für die Hamas im Kampf gegen Israel in Aussicht stellte. Seit Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober blockiert die Türkei nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters per Veto in der Nato jede Zusammenarbeit mit Israel. Die israelische Regierung fordert, die Türkei aus dem Bündnis zu werfen.
Feind und unverzichtbarer Partner zugleich
Nun habe die Türkei das Kunststück fertiggebracht, an einem Tag in der Nato angefeindet zu werden und am nächsten zu beweisen, wie unverzichtbar sie als Bündnispartnerin sei, sagte Cagaptay unserer Zeitung. Er erwartet, dass sich Erdogan nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen wird. „Wenn Verhandlungen über eine Waffenruhe in der Ukraine beginnen, wird die Türkei im Mittelpunkt stehen“, sagt er voraus.
Erdogan versucht seit Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022, Putin und den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj zu einem Gipfeltreffen in der Türkei zu bewegen. Vor zwei Jahren handelte die Türkei das Istanbuler Getreideabkommen aus, die bisher weitreichendste Vereinbarung zwischen den Kriegsparteien. Bei einem Besuch Selenskyjs in der Türkei im März bekräftigte Erdogan sein Angebot, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Bisher sind weder Putin noch Selenskyj darauf eingegangen. Der Gefangenenaustausch dürfte den türkischen Bemühungen aber neuen Schwung verleihen.
Dagegen dürfte der Ruf aus dem Westen an die Türkei, sich an die Sanktionen gegen Russland zu halten, zumindest vorübergehend leiser werden. Schließlich kann die türkische Regierung jetzt entgegnen, dass ihr Sonderweg zwischen Russland und der Ukraine auch handfeste Vorteile für Europa und Amerika bringt. Erdogan wird sich noch deutlicher als bisher Ratschläge aus dem Westen verbitten.
Joe Biden bekam das bereits zu spüren. Als der US-Präsident den türkischen Staatschef nach dem Gefangenenaustausch anrief, um ihm für die türkische Vermittlung zu danken, nutzte Erdogan das Gespräch, um seine Kritik an Israel loszuwerden. Leichter dürfte der Umgang mit der Türkei für den Westen nicht werden.