„Taiwan muss aufwachen““ Die Angst vor einem Angriff Chinas
Taipeh – Lam Wing-kee hat sich auf gut 50 Quadratmetern im Widerstand gegen die chinesische Führung eingerichtet. Draußen schlängeln sich die Mopeds durch die Straßen Taipehs, drinnen in Wing-kees Laden herrscht Stille. In der Ecke das schmale Hochbett, im Rest des Raums Regale voller Bücher. An den Wänden hängen Postkarten, die zum Freiheitskampf auffordern, und ein Banner, das „Revolution Now“ verlangt. Darunter klebt eine Zeitungsseite, die von den immer wieder in Gewalt ausgearteten Protesten in Hongkong erzählt – und so auch von Lam Wing-kees Vergangenheit.
Er war einer von fünf Buchhändlern aus der sogenannten Sonderverwaltungszone, die im Herbst 2015 von Agenten der chinesischen Führung verschleppt wurden, weil sie Publikationen verkauften, die den Mächtigen in Peking missfielen. Nachdem er 2019 ins Exil nach Taiwan flüchtete, wiedereröffnete er das „Causeway Bay Books“, eine Mischung aus Buchladen, Wohnung, politischem Kriegsschauplatz und Symbol für Taiwans lebendige Demokratie.
Der hagere Mann mit den grauen Haaren organisiert regelmäßig Buchbesprechungen und Diskussionsrunden. „Nur wenn wir China verstehen, können wir die Führung stürzen.“ Geprägt von den Erfahrungen in Hongkong, scheint er fast irritiert von der locker wirkenden Stimmung in seiner neuen Heimat. Der 66-Jährige lehnt sich auf dem Stuhl zurück und sagt mit ruhiger Stimme: „Taiwan muss aufwachen.“
Parallelen zum Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine
Der Krieg in der Ukraine hat zumindest die Führung des 23-Millionen-Einwohner-Lands endgültig aufgerüttelt. Ein autoritärer Staat, der aus Größenwahn seinen kleineren Nachbarn, noch dazu eine junge Demokratie, angreift? Die Parallelen sind für die Menschen mehr als offensichtlich. Zwischen Taipeh und Kiew mögen 8000 Kilometer liegen, doch die Angst, dass China von Wladimir Putins Gebaren ermutigt wird, ist groß. Würde die westliche Gemeinschaft dem Land bei einem Angriff ebenso beistehen wie derzeit der Ukraine?
Erst diese Woche drohte die chinesische Führung mit „starken und entschlossenen Gegenmaßnahmen“, sollte die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi auf die autonom regierte Insel reisen, wie sie es angeblich für August plant. Auch gegenüber US-Präsident Joe Biden hat Chinas Staatschef Xi Jinping davor gewarnt, die Spannungen mit Taiwan weiter anzuheizen. „Wer mit dem Feuer spielt, wird sich irgendwann verbrennen“, sagte Xi laut der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua gestern bei einem „offenen und tiefgründigen“ virtuellen Treffen mit seinem US-Kollegen.
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Die meisten Länder erkennen nur die Volksrepublik als souveränen Staat an, darunter auch Deutschland und die USA. Gleichwohl unterstützt die amerikanische Regierung im Rahmen einer Politik der „strategischen Zweideutigkeit“ Taiwan politisch und militärisch, ohne ausdrücklich zu versprechen, der Insel im Kriegsfall zu Hilfe zu kommen. Dennoch, Peking bewertet jedes Zeichen im Sinne Taiwans als Brüskierung.
Das machte deren Führung auch an jenem Morgen deutlich, als die bislang ranghöchste Besucherin aus Brüssel in Taipeh landete. Nicola Beer (FDP), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, überbrachte während ihres dreitägigen Trips persönlich die Botschaft, dass die EU fest an der Seite Taiwans stehe.
Taiwan setzt auf die Stimme Europas
Während Peking über „eine schwere Verletzung des Ein-China-Prinzips“ schimpfte und schon im Vorfeld einen Flugzeugträger durch die Taiwanstraße, jene Meeresenge zwischen dem chinesischen Festland und der Insel, schickte, rollte die taiwanische Regierung den roten Teppich aus. Treffen mit Präsidentin Tsai Ing-wen, mit Premierminister Su Tseng-chang, mit Außenminister Joseph Wu – prominenter geht nicht.
Beer lieferte viel Balsam für die Seele der Nation. „Nur das taiwanische Volk kann über die Zukunft Taiwans entscheiden“, gehörte zu jenen Sätzen, die nickend aufgenommen wurden.
Sie haben auf der ostasiatischen Insel genau verfolgt, wie sich das EU-Parlament im Oktober 2021 mit großer Mehrheit für eine „umfassende und verstärkte Partnerschaft“ mit Taiwan ausgesprochen und seit Februar 2021 „20 Resolutionen zugunsten Taiwans“ verabschiedet hat, wie jeder Politiker im Gespräch mit Beer lobend betonte. Dieser Tage werde „mehr denn je über Taiwan geredet“, sagte Außenminister Wu. Schutz durch Sichtbarkeit, so lautet die Hoffnung.
Taiwan setzt zudem auf die Stimme Europas, um internationalen Gremien, vorneweg der Weltgesundheitsorganisation WHO, beizutreten. „Wir wollen als Mitglied der Familie von Demokratien betrachtet werden“, sagte Wu und nahm damit Beers Worte auf, die sie in jenen Tagen immer wieder wählte.
Beer will Taiwan „nicht im Stich lassen“
Für die Europaabgeordnete soll die Reise aber auch als Forderung an die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten wirken, „sich hier stärker und deutlicher aufzustellen“. Dass die EU etwa „wirklich“ ein bilaterales Handelsabkommen anstrebe, auf das die Taiwaner pochen.
„Es gilt, auch so eine kleine Insel nicht im Stich zu lassen, wenn es um die Verteidigung von Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht“, sagte Beer im Gespräch mit dieser Zeitung, ohne an der offiziellen Ein-China-Politik der EU zu rütteln. Nur so viel: „Ich möchte keinen 24. Februar in Taiwan erleben.“ Wenn diese Reise ein kleines bisschen dazu beitrage, „dass die Chinesen merken, wir meinen es ernst, hat sie sich schon gelohnt“, so Beer.
Gleichwohl kam der Trip zu einem heiklen Zeitpunkt. Xi Jinping will sich im Herbst für eine dritte Amtszeit absegnen lassen. Seine „Null Covid“-Strategie lähmt jedoch die Wirtschaft, innenpolitisch ist Chinas Staats- und Parteichef kurz vor dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei in der Defensive. Könnte er als „Ablenkungsmanöver“ einen Konflikt im Ausland anzetteln wollen, wie manche Beobachter befürchten?
Und wäre Taiwan ausreichend vorbereitet auf einen Angriff? Präsidentin Tsai Ing-wen verspricht zwar unaufhörlich, die Menschen Taiwans würden ihre Demokratie und Souveränität verteidigen und sich autoritären Übergriffen widersetzen. Doch wie lange könnte Taiwan bei einem Eindringen Chinas durchhalten?
Erleichterung in Taiwan über europäische Solidarität
Die taiwanischen Verteidigungsanlagen sind Berichten zufolge schlecht ausgerüstet und personell unterbesetzt. Experten fordern deshalb eine Erhöhung des Militärbudgets wie auch die Verlängerung des Pflichtwehrdiensts, der derzeit nur vier Monate Grundausbildung vorsieht. „Peking ist gefährlicher als Moskau“, sagt der Verteidigungsforscher Jyh-Shyang Sheu. Taiwan als Insel sei zwar einfacher zu verteidigen, doch aufgrund der Geografie würde sich die Unterstützung aus dem Westen, vor allem aus den USA, auch schwieriger gestalten. „China wird versuchen, Taiwan zu blockieren“, prognostiziert Sheu.
Die Solidarität des Westens mit der Ukraine beobachten sie in Taiwan mit einer gewissen Erleichterung. „Es dient auch als Abschreckung für China“, so Sheu. Auch Peking würde die internationalen Reaktionen genau verfolgen, etwa um ähnliche Fehler wie jene des Kremls zu vermeiden. Eine Befürchtung aber teilt der Militärexperte mit vielen seiner Kollegen. Sollten die Russen am Ende Zugeständnisse bekommen oder für sie positive Resultate verbuchen können, „dann wird es noch gefährlicher“. Dies würde China zeigen, so Shen, „dass es als Großmacht am Ende siegen kann, weil der Westen rasch aufgeben wird“. (mit afp)