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Studie zeigt Motive aufWas Menschen bewegt aus den Kirchen auszutreten

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Symbolbild Kreuz

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Köln – „Das ist wie ein Fitnessstudio, das man nicht nutzt und seit Jahren zahlt.“ Das ist eine der Antworten, die Forscher des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland erhalten haben, als sie nach den Motiven für einen Kirchenaustritt fragen. In einem anderen Fall gab es folgende Begründung dafür, warum der Austritt nicht schon früher erfolgt ist: „Das ist eine gewisse Trägheit, wie einen neuen Stromanbieter suchen. Es ist bequem, wenn man bleibt.“

In einer repräsentativen Studie hat das Institut1000 Menschen befragt, die seit 2018 aus der katholischen oder der evangelischen Kirche ausgetreten sind. Und weitere 517, die vor 2017 gegangen waren. Die Studie soll wiederholt werden, dann will sich auch die katholische Deutsche Bischofskonferenz daran beteiligen.

Kirchenaustritte Grafik

Das zentrale Ergebnis der Studie

Die Austrittsbegründungen bei ehemaligen Katholiken und Protestanten unterscheiden sich deutlich. Kirchenaustritt als Prozess wie beim Sportstudio, das haben die Forscher vor allem bei den vormals Evangelischen beobachtet: „Bereits die Kindheit war durch ein eher kirchenfernes Elternhaus und sporadischen Kontakt zur Kirche geprägt; zumeist nachhaltig eingebrochen ist der Kontakt nach der Konfirmation“, erklärt Studienautorin Petra-Angela Ahrens. Bei Katholiken ist der Austritt viel öfter ein „Bruch“ aus konkretem Anlass. In Zahlen: 24 Prozent der ehemaligen Protestanten, aber 37 Prozent der ausgetretenen Katholiken nannten solche Anlässe für ihre Entscheidung.

Zahlen

280.000 evangelische Christen sind nach einer ersten Schätzung im letzten Jahr aus der Kirche ausgetreten – ein Rekordwert. Zum Jahreswechsel 2021/22 gab es bundesweit noch 19,7 Millionen Protestanten. Von katholischer Seite liegen noch keine Zahlen vor, Meldungen von Amtsgerichten deuten aber auch hier auf mehr Austritte hin.

Im Corona-Jahr 2020, als Termine bei den Amtsgerichten knapp waren, hatten jeweils rund 220 000 Menschen die beiden großen Kirchen verlassen, am Jahresende 2020 gab es noch 22,2 Millionen Katholiken. Der Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung könnte auf 50 Prozent sinken. 2020 waren es noch 51 Prozent. (rn)

Dabei waren Skandale – etwa der Umgang mit sexualisierter Gewalt oder Finanzaffären – und Fragen der kirchlichen Positionierung wichtiger als die Kirchensteuer. Sie wurde nur von 16 Prozent der Ex-Protestanten und 14 Prozent der Ex-Katholiken genannt, die überhaupt Anlässe angaben. Fragte man allerdings gezielt nach, dann nannten von allen seit 2018 Ausgetretenen immerhin 59 Prozent der Protestanten und 51 Prozent der Ex-Katholiken die Kirchensteuer als wichtiges Motiv (vor 2018: 54 bzw. 42 Prozent).

Sexueller Missbrauch, Kirchenfinanzen, Diskriminierung von Homosexuellen als Hauptmotive

Unter den genannten Begründungen überwogen die Themen sexueller Missbrauch, Kirchenfinanzen, Diskriminierung von Homosexuellen und (vor allem auf evangelischer Seite) Flüchtlingslingshilfe (siehe Grafik und Interview). Für beide Konfessionen auffällig: Menschen zwischen 18 und 35 begründeten ihren Austritt besonders selten konkret, über 60-Jährig tun es besonders häufig – auf katholischer Seite zu 50 Prozent, auf evangelischer zu 35 Prozent.

Auf katholischer Seite nehmen seit 2018 deutlich mehr Ausgetretene Anstoß am Umgang mit Homosexualität als früher. Ahrens vermutet einen Zusammenhang mit dem Nein der Glaubenskongregation zur Segnung homosexueller Partnerschaften, das im März 2021, kurz vor Beginn der Umfrage, publik wurde. Matthias Kopp, Sprecher der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, warnt vor derartigen „vorschnellen Schlüssen“. Aber: „Wir sind an der Sache längst dran und der Synodale Weg ist das klare Bekenntnis, sich den drängenden Fragen der Zeit zu stellen.“

Eine weitere Auffälligkeit

Bei den Katholiken, so Arenz, seien es gerade die weniger „Kirchenfernen“, die wegen Skandalen austreten: „Bei den vormals Evangelischen sind es demgegenüber die (ohnehin) Kirchenferneren, die Skandale als Anlass nennen.“ Dieser Differenzierung widerspricht der rheinische Präses Thorsten Latzel . Er findet die Bezeichnung „Kirchenferne“ unglücklich. „Viele Menschen, die nicht regelmäßig am Gemeindeleben vor Ort teilnehmen, verstehen sich deshalb selbst nicht als ,kirchenfern“, sagt er der Rundschau. „Es wäre ja die Frage, wer hier wem fern ist.“ Die Menschen der Kirche oder die Kirche den Menschen?

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Diese Frage führt für Latzel zu einer praktischen Konsequenz: intensive Kontaktpflege, persönliche Lebensbegleitung. „Kirche konsequent von den Menschen aus denken, nicht von Strukturen. Dazu gehört es, Menschen zu Hause zu besuchen, digitale Kommunikationswege aufzubauen, sich vor Ort gut zu vernetzen.“

Mit „pastoralen Prozessen“ reagieren

Für die katholischen Bischöfe erklärt Sprecher Kopp: „Mit der EKD-Studie fangen die Bischöfe nicht erst an, Konsequenzen zu ziehen, sondern sie sind damit längst dran.“ Bistümer wie Freiburg und Münster hätten bereits in der Vergangenheit eigene Studien erstellen lassen. Bistümer versuchten, mit „pastoralen Prozessen“ zu reagieren, und: „Ein wesentlicher Aspekt ist der Synodale Weg, der neue Glaubwürdigkeit und neues Vertrauen erarbeiten möchte.“

Auf ihrer Frühjahrsvollversammlung 2021 hatten sich die Bischöfe mit dem Thema befasst und auch über den Formbrief gesprochen, den Ausgetretene bekommen und in harsch auf die Konsequenzen – etwa: keine Zulassung zur Kommunion und zum Patenamt – hingewiesen wird. Das Schreiben galt schon damals als kontraproduktiv – ob es geändert wird, ist unklar. Aber, so Kopp: „Wir wissen von Bischöfen, Priestern und Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die sehr gezielt den Kontakt zu den Ausgetretenen suchen, sofern sie das wollen. Viele Menschen möchten ein solches Gespräch nicht – das fragt die Studie übrigens nicht ab.“

Drei Fragen an Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

Auch Protestanten reagieren mit Austritt auf den Umgang mit Missbrauchsfällen. Inhaftungnahme für Fehler auf katholischer Seite – oder gibt es eigene Defizite?

Sexualisierte Gewalt ist leider ein gesamtgesellschaftliches Problem – in Familien, Schulen, Vereinen, auch in den Kirchen. Wenn das in der Kirche geschieht, ist das besonders schlimm, weil sie ein Schutzraum ist und sein muss. Wir tun alles dafür, um sexualisierte Gewalt zu verhindern: Jede Einrichtung muss ein Präventionskonzept vorlegen, jeder Mitarbeitende wird geschult und braucht ein Führungszeugnis. Es gibt Meldestellen, Multiplikatoren, Aufarbeitungskommissionen, die Pflicht, jeden Vorfall zu melden. Wir haben in der evangelischen Kirche eine offene Sexualmoral, kein spezielles Problem bei Pfarrerinnen und Pfarrern. Sexualisierte Gewalt gibt es aber auch bei uns.

Hilfe für Flüchtlinge stellt inzwischen 18 Prozent der genannten Austrittgründe dar. Was ist da los?

Es gibt Menschen mit verschiedenen politischen Positionen in unserer Kirche; und das ist auch gut so. Die Hilfe für Menschen in der Not ist für uns aber schlicht ein Gebot der Nächstenliebe, wie sie Jesus Christus gelehrt hat: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matthäusevangelium 25,35) Wir lassen keine Menschen sterben oder in der Not allein. Und ich bin dankbar für das sehr starke soziale Engagement unserer Gemeinden, gerade auch für Flüchtlinge, ganz gleich, woher sie stammen. Das gilt jetzt im Ukrainekrieg, ebenso wie an den EU-Außengrenzen. Dass wir Geflüchtete menschenwürdig behandeln, ist für uns keine Frage, ob es gefällt, sondern ein Menschenrecht und ein Kerninhalt gelebten Glaubens.

Eine weitere oft genannte Begründung ist die Ablehnung von Homosexuellen …

Als evangelische Kirche sind wir hier eindeutig: Die freie sexuelle Selbstorientierung ist für uns selbstverständlich. Und sie gehört für uns zum christlichen Glauben dazu. Das war in der Geschichte der Kirche wie in unserer Gesellschaft leider nicht immer so. Hier unterscheiden wir uns auch von anderen Konfessionen. Bei der Umfrage war das ja eine vorgegebene Antwort. Ob hier Klischees, fehlende konfessionelle Differenzierungen oder eigene Erfahrungen eine Rolle spielen, kann man nur spekulieren. Wir treten zumindest in Unterricht, Gottesdienst, Seelsorge oder Diakonie jeder Diskriminierung entschieden entgegen.