AboAbonnieren

Russlands Truppen unter DruckWas hat die ukrainische Armee am Dnipro vor?

Lesezeit 3 Minuten
A group of Ukrainian marines sail from the riverbank of Dnipro at the frontline near Kherson, Ukraine, Saturday, Oct. 14, 2023. (AP Photo/Alex Babenko)

Ukrainische Soldaten überqueren den Dnipro per Schlauchboot (Foto vom 14. Oktober)

Die ukrainische Armee hat ihre Operationen auf dem östlichen Ufer des Flusses Dnipro verstärkt. Das alarmiert offenbar auch die russische Führung. Aber was plant die Ukraine hier?

Ächzen im Gebälk der russischen Armeeführung: Generaloberst Michail Teplinsky, Vize-Oberkommandierender der russischen Truppen im Angriffskrieg gegen die Ukraine, hat höchstpersönlich das Kommando über den russischen Frontabschnitt am Unterlauf des Dnipro übernommen, gegenüber der von der Ukraine vor knapp einem Jahr befreiten Stadt Cherson. Vorgänger Oleg Makarewitsch hat dort nun nichts mehr zu melden.

Die Lage am Dnipro

„Teplinskis Berufung ist vermutlich ein Beleg für den wachsenden Druck auf die russischen Truppen, die das Gebiet verteidigen“, bilanziert der britische Militärgeheimdienst – eine Analyse, für die es nicht allzu viel an geheimen Erkenntnissen braucht. Seit der Befreiung von Cherson sind ukrainische Truppen auch am gegenüberliegenden Ufer aktiv und haben ihre Einsätze in den vergangenen Wochen stark ausgeweitet. Zusätzlich zu ihren schon lange gehaltenen Stellungen am Fuß der zerstörten Antoniwka-Straßenbrücke haben sie sich auch unterhalb der parallelen, ebenfalls zerstörten Eisenbahnbrücke festgesetzt – und weiter flussaufwärs im Ort Krynky, nahe dem Naturschutzgebiet der Oleschky-Dünen. Insgesamt dürften es – so die Auswertung des ukrainischen Bloggers Noel Reports – über 30 Quadratkilometer sein.

Eine neue Operation Overlord?

Was geht hier vor? Auf den ersten Blick naheliegend wäre ein Szenario, das einer „Operation Overlord“ im kleinen Maßstab entspräche: Die Ukraine erobert Brückenköpfe – wie einst die Alliierten in der Normandie –, verbindet sie und startet von dort aus einen Durchbruchsversuch. Von der Cherson gegenüberliegenden Kreisstadt Oleschky aus sind es gut 80 Kilometer Luftlinie bis zum ersten Krim-Übergang, und anders als im Bezirk Saporischschja sind die russischen Verteidigungslinien hier eher dünn ausgebaut. Gerade weil es an der Saporischschja-Front so langsam vorangeht, könnten die Ukrainer hier vorzustoßen versuchen.

Risiken einer Großoffensive

Gegen ein solches Szenario sprechen zwei gewichtige Gründe. Erstens: Für so eine Offensive müssten die Ukrainer Truppen und Material nicht nur über den Hauptstrom des Dnipro bringen, der bei Cherson 500 Meter breit ist, sondern auch durch die etwa drei Kilometer breite Sumpf- und Auenlandschaft, die sich auf dem Ostufer anschließt. Durchzogen von Wasserläufen, abgeschlossen vom Dnipro-Nebenarm Konka, ist dieses Gelände für schwere Fahrzeuge nur an wenigen Stellen zu passieren – vor allem natürlich über die für hohe Lasten ausgebauten Zufahrten zu den beiden zerstörten Brücken. Andernorts müsste schweres Gerät auf Booten über Flussarme und Kanäle transportiert werden, bis man sicheren Grund erreicht. Der zweite Gegengrund: So lange die Ukraine nur einen schmalen Uferstreifen befreit, erhalten ihre Truppen sehr effektiv Artillerieschutz vom Westufer. Stößt man aber tiefer vor, müsste man Artillerie und Flugabwehrsysteme über den Fluss bringen – und damit in große Gefahr.

Bis auf weiteres sollte man daher annehmen, dass die Ukrainer am Dnipro vor allem versuchen, die russischen Okkupatoren zu binden und abzulenken. Dass Teplinski (der schon den Rückzug aus Cherson vor einem Jahr zu managen hatte) eingreifen muss, ist ein Signal für den Erfolg einer solchen Taktik – und immerhin mussten sich Truppen, die eigentlich an der Saporischschja-Front dringend gebraucht würden, Richtung Dnipro bewegen. Wie problematisch die Lage der Okkupatoren ist, zeigen an anderer Stelle – in der Nähe von Donezk – die unter hohen Verlusten gescheiterten russischen Angriffe auf die Stadt Awdijikwa. Nach nicht überprüfbarer ukrainischer Darstellung sollen mittlerweile 300 000 russische Soldaten in dem Krieg gefallen sein.

Razzien am Ostufer

Von den befreiten Uferpartien bei Cherson aus kann die Ukraine russische Nachschubwege unterbrechen – so geschehen an den Oleschky-Dünen – und Razzien ins Hinterland starten. Pro-ukrainische Kanäle verbreiteten am Dienstag das Foto eines ukrainischen Fähnchens am Ortseingang von Nowa Kachowka.

Ein Signal der Hoffnung für Bürger in den von Russland besetzten Gebieten – kurz nach einer neuen Schreckensnachricht: Im besetzten Wolnowacha (Bezirk Donezk) haben russische Soldaten eine neunköpfige ukrainische Familie ermordet. Wolnowacha liegt dicht hinter der Front, konnte aber bislang nicht von ukrainischen Truppen erreicht werden. In Nowa Kachowka dagegen sind immerhin ukrainische Spezialkräfte gelegentlich unterwegs.