74 Menschen, darunter 65 ukrainische Kriegsgefangene, sollen nach russischer Darstellung beim Absturz eines russischen Militärtransporters in der Region Belgorod ums Leben gekommen sein. Was wissen wir, was wissen wir nicht?
Russischer Militärfrachter stürzt bei Belgorod abWaren wirklich Gefangene an Bord?
Was für eine Maschine ist abgestürzt?
Der Absturz selbst steht außer Zweifel, sowohl die russische als auch die ukrainische Seite bestätigen ihn. Dass der Jet in der Luft zerbrach (Video), deutet auch auf eine Explosion – vielleicht nach einem Raketentreffer – und nicht auf einen technischen Defekt am Flugzeug, hin. Der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy hält es denn auch für „ziemlich sicher", dass die Maschine abgefangen (er meint: abgeschossen) worden sei. Von wem, das sei aber unklar.
Betroffen war eine schwere düsengetriebene Transportmaschine vom Typ Iljuschin Il-76. Sie kann Großgeräte wie Panzer und Geschütze transportieren, aber im Frachtraum natürlich auch Passagiere aufnehmen – schätzungsweise rund 90 Personen.
Im Angriffskrieg gegen die Ukraine hatte Russland nach einer Zählung des Portals Oryx bislang, also vor dem aktuellen Absturz, fünf Maschinen dieses Typs eingebüßt. Alle wurden am Boden zerstört oder irreparabel beschädigt, vier davon bei einem ukrainischen Drohnenangriff auf den nordrussischen Flughafen Pskow (Pleskau) am 30. August 2023. Auch das Fernaufklärungsflugzeug Berijew A-50, das die Ukraine vor einigen Tagen über dem Asowschen Meer abgeschossen hat, basiert auf einer Il-76.
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Wo erfolgte der Absturz?
Nach Angaben der russischen Staatsagentur Tass ging die Maschine um 11.15 Uhr Moskauer Zeit (9.15 Uhr MEZ) beim Dorf Jablonowo, Kreis Korotschansky, nieder. Das liegt ungefähr 70 Kilometer (Luftlinie) von der ukrainischen Grenze und entfernt. Tass zitiert den Dorfpfarrer Georgij Browikow mit der Aussage, im Ort habe es keine Zerstörung gegeben.
Waren Kriegsgefangene an Bord?
Bisher gibt es nur die russische Behauptung, die Maschine habe Kriegsgefangene zu einem Austausch befördert. Der ukrainische Militärgeheimdienst bestätigt dazu lediglich, dass ein Gefangenaustausch für Mittwoch geplant gewesen sei. Die russische Seite habe aber nicht darüber informiert, auf welchem Wege die Gefangenen transportiert werden würden. Die Übergabe solcher Informationen sei bei solchen Austauschaktionen zwingend. Insbesondere ein geplanter Lufttransfer so nahe an der Frontlinie müsse erörtert werden. Ist das ein indirektes Eingeständnis, das Flugzeug getroffen zu haben?
Die ukrainische Zeitung „Ukrainska Prawda“ verbreitet unter Bezug auf den ukrainischen Generalstab eine ganz andere Version: Die Maschine habe S-300-Luftabwehrraketen befördert. Auch dafür gibt es keine weitere Quelle. Allerdings könnte das Auseinanderbrechen des Rumpfs der stürzenden Maschine auf eine Detonation im Inneren schließen lassen – und damit auf Explosivstoffe als Fracht.
Eine Videosequenz, die angeblich von der Absturzstelle stammt, zeigt offenbar von Schrapnellen durchsiebte Wrackteile, aber keine Leichen. Eine von Kremlpropagandistin Margarita Simonjan verbreitete angebliche Passagierliste enthält Namen von bereits früher ausgetauschten ukrainischen Gefangenen.
Woher kam die Maschine?
Tass machte zunächst keine Angaben darüber, woher die Maschine gekommen sein soll. Die Fotos und Videos vom Absturzort geben keinen Hinweis auf die Flugrichtung. Später erklärte das russische Verteidigungsministerium, das Flugzeug sei in Tschkalowsk an der Wolga gestartet. Nach Darstellung des von Kritikern der russischen Behörden betriebenen Telegram-Kanals VChK-OGPU und des Belgoroder Kanals „Pepel“ hatte die Maschine dagegen in Belgorod abgehoben. Das verträgt sich schwer mit der russischen Behauptung, sie habe freizulassende Kriegsgefangene befördert – wohin denn? Aus der Grenzregion weg und nicht etwa dorthin?
Der unabhängige ukrainische Militärkorrespondent Illja Ponomarenko weist darauf hin, dass eine Il-76 Maschine mit der Registrierungsnummer RA78830 erst am Dienstag von Moskau aus in den Iran geflogen sei – und sich am Mittwoch auf dem Rückflug über Ägypten und das Mittelmeer befand. Das geht aus Daten des Dienstes Flightradar24 hervor. Diese Maschine sollte wohl Waffen aus dem Iran transportieren. Aber ist sie mit dem abgestürzten Flugzeug identisch? Das letzte Transpondersignal wurde um 8.10 Uhr MEZ in der Nähe von Zypern aufgefangen, dann schaltete die Maschine offensichtlich ihre Kennung ab. Von dort wären es noch knapp drei Stunden Flugzeit bis Belgorod gewesen. Der Jet hätte nicht um 9 Uhr dort sein können.
Wenn das Flugzeug Flugzeug abgeschossen wurde, dann vom wem?
In einer ersten Meldung der „Ukrainska Prawda“ hieß es, das ukrainische Militär habe den Jet abgeschossen. Diese Darstellung zog das Medium wieder zurück. Andrej Kartapolow, der Chef des Verteidigungsausschusses der russischen Staatsduma, verbreitet die Geschichte dagegen mit Details ausgeschmückt weiterhin. Er behauptet, die Ukraine habe den Jet mit deutschen oder amerikanischen Luftabwehrraketen getroffen, obwohl man in Kiew gewusst habe, das Kriegsgefangene an Bord gewesen seien. Eine zweite Maschine mit weiteren Gefangenen habe abdrehen können. Der „kollektive Westen“ habe mit der Ukraine „ein Monster hervorgebracht“, sekundierte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Duma, Leonid Slutsky. Und Duma-Präsident Wjatscheslaw Wolodin schlug Interventionen beim Bundestag und bei US-Kongress vor.
Auffällig: Während die Duma-Abgeordneten wüteten, schrieb die staatliche russische Agentur Tass noch am frühen Mittag (MEZ), dass „die Ursachen der Katastrophe … noch nicht offiziell bekannt gegeben“ worden seien. Erst nach 13 Uhr legte sich dann auch das russische Verteidigungsministerium auf die Behauptung fest, die Ukraine habe das Flugzeug abgeschossen und so einen „Terroranschlag" begangen. Die Moskauer Führung hatte also sichtlich Mühe, ihr Narrativ abzustimmen.
Eine andere Möglichkeit bringt der deutsche Sicherheitsexperte Nico Lange ins Spiel: Tatsächlich sehe „alles nach einem irrtümlichen Abschuss durch eine russische S-300-Flugabwehr aus“. Russland habe solche Systeme nachweislich im Raum Belgorod stationiert – während die Ukraine in der Nähe bisher weder Patriot- noch Iris-T-Systeme eingesetzt habe. Es wäre nicht der erste Fall dieser Art. So hatte Russland im Oktober 2023 einen eigenen Su-35-Kampfjet abgeschossen – und nach Angaben des US-Magazins Newsweek am 2. Januar 2024 über der Krim erneut ein Flugzeug dieses Typs.
Allerdings: Wenn das auch diesmal so wäre, dann müsste es der ukrainischen Seite ja leicht fallen, die russischen Behauptungen klar und glaubwürdig zu dementieren. Auch das ist bisher nicht erfolgt.
Fazit
Wer an Bord der Il-76 war und warum der Absturz erfolgte, ist unklar, allerdings gilt ein Abschuss vielen Beobachtern als wahrscheinlich. Dabei ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass so ein Abschuss durch eigenes russisches Militär erfolgte.