Warum sind die Krim und die Schwarzmeerflotte so wichtige Ziele? Und warum nimmt die Ukraine so hohe Opfer in Kauf?
Russisch-ukrainischer KriegNeuer Schlag auf Sewastopol: Ist der Kommandant der Schwarzmeerflotte tot?
So schnell kommt man in der Zukunft an: US-Präsident Joe Biden wolle derzeit keine ATACMS-Raketen an die Ukraine liefern, hatte sein Sicherheitsberater Joe Sullivan am Donnerstag erklärt. Aber er werde das vielleicht in Zukunft überdenken. „Es stellt sich heraus, dass die Zukunft am Freitag war“, bilanziert der im schottischen St. Andrews lehrende Militärhistoriker Phillips O’Brien in seinem jüngsten Rundbrief: Die Ukraine wird diese Raketen offensichtlich erhalten. Schlechte Nachrichten für die russischen Besatzer, denen die Ukraine schon mit ihren bisher vorhandenen Lenkwaffen schwere Schäden zugefügt hat – zuletzt ebenfalls am Freitag in Sewastopol.
Was ist in Sewastopol passiert?
Die Ukraine hat britisch-französische Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow/Scalp benutzt, um das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der besetzten Krim anzugreifen – und zwar während eines Treffens hochrangiger Kommandeure im Angriffskrieg gegen die Ukraine. Fotos zeigen schwere Gebäudeschäden.
Nach Angaben der ukrainischen Spezialkräfte (SSO) vom Montag sollen bei dem Schlag 34 russische Offiziere gestorben sein, darunter Admiral Wiktor Sokolow, dem gastgebenden Chef der Schwarzmeerflotte. Der Admiral war für Marschflugkörperangriffe auf ukrainische Wohnviertel mit Hunderten Toten verantwortlich. Allerdings veröffentlichte die russische Seite am Dienstag ein Video, das Sokolow auf einem Bildschirm während einer Besprechung mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu zeigt – allerdings stumm, ohne Bewegung und mit einer Art Kissenbezug hinter dem Kopf. Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte die Berichte über Sokolows Tod nicht kommentieren wollen, das ukrainische Militär kündigte eine neue Prüfung an. Am Wochenende hatte Kyrilo Budanow, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, gesagt, es gebe noch keine Informationen über Sokolows Schicksal. Generaloberst Alexander Romantschuk, Kommandeur der russischen Truppen im Bezirk Saporischschja, sei in einem sehr ernsten Zustand, Generalleutnant Oleg Tsekow sei nicht bei Bewusstsein, hatte Budanow erklärt.
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Welche Ziele verfolgt die Ukraine damit?
Der Angriff ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen zeigt er, über was für ein dichtes Netz von Zuträgern die ukrainischen Geheimdienstler in den besetzten Gebieten verfügen – möglicherweise auch unter russischen Militärs. Zum zweiten galt die – auf Pachtbasis ja auch schon in früheren Friedenszeiten genutzte – Basis der Schwarzmeerflotte als die am besten durch Luftabwehrsysteme geschützte russische Stellung in der Ukraine. Schon der Doppelschlag gegen ein Landungsschiff und ein U-Boot im Reparaturdock von Sewastopol am 13. September demonstrierte, was von dieser Luftabwehr noch übrig ist – nach einem Monat ständiger ukrainischer Luftschläge. Das Landungsschiffs sollte das offenbar verlassen und am nächsten auf Einsatzfahrt gehen sollte, jedenfalls waren nach jüngste ukrainischer Darstellung Besatzungsmitglieder an Bord. Es habe 64 „irreversible Verluste", also offenbar Tote und Schwerverletztem gegeben. Auch nach dem Angriff auf die Schiffe, die offenbar irreparabel beschädigt sind, setzte die Ukraine diese Schläge fort. Und mit Seedrohnen zog sie die Korvette Samum, einen schnellen Raketenträger, außer Verkehr.
Nicht ein einzelner noch so schwerer Schlag, aber die Serie aufeinanderfolgender Angriffe könnte die Ukraine einem Etappenziel näher bringen, das Präsident Wolodymyr Selenskyj Ende August ausgegeben hatte. „Wenn wir an den Verwaltungsgrenzen der Krim sind, denke ich, kann man politisch die Demilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel erzwingen“, hatte der Präsident gesagt. Das wurde gelegentlich als Einschwenken auf eine Verhandlungslösung interpretiert – aber Achtung, Selenskyj sprach von Erzwingen. Was er wohl tatsächlich sagen wollte: Die ukrainische Führung hofft, die Krim für Russland militärisch unhaltbar machen zu können, auch ohne eine verlustreiche Invasion riskieren zu müssen. Sie will die russische Flotte aus dem westlichen Schwarzen Meer verdrängen und die Krim als Basis russischer Luftangriffe und als Drehscheibe der russischen Kriegslogistik ausschalten.
Was hat das mit den ATACMS-Raketen zu tun?
Die neuen US-Raketen erweitern die Möglichkeiten der Ukraine, die russischen Okkupatoren auf der Krim, aber beispielsweise auch im besetzten Luhansk anzugreifen. ATACMS wird gelegentlich als Langstreckenrakete bezeichnet. Das ist falsch. Mit einer Reichweite von 300 Kilometern gehört sie zu den Kurzstreckensystemen, fliegt aber weiter als die Exportversion von Strom Shadow/Scalp (250Kilometer).
Wichtig ist die US-Lieferung aus drei Gründen. Erstens: Zwar ist die genaue Zahl britisch-französischer Marschflugkörper in ukrainischem Besitz unklar, es dürften aber nur wenige hundert geliefert worden sein. Der Vorrat geht erkennbar zur Neige. Die US-Raketen können diese Mangelsituation lindern, und sie haben – zweitens – andere Eigenschaften als die Marschflugkörper. Sie werden nicht von Flugzeugen aus gestartet, sondern von Raketenwerfern (Himars/M270/Mars II), und sie fliegen mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit bis zu 48 Kilometer hoch, während die Marschflugkörper unterhalb der Schallgeschwindigkeit meist im Tiefflug unterwegs sind. Je mehr verschiedene Systeme – Drohnen, Marschflugkörper, Raketen – die Ukraine einsetzt, desto schwerer hat es die ramponierte russische Luftabwehr. Drittens: Durch die US-Entscheidung wächst der Druck auf die deutsche Bundesregierung, nun endlich die von Kiew dringend gewünschten Taurus-Marschflugkörper bereitzustellen.
Wie hängt das mit den Kämpfen auf dem Boden zusammen?
Die ukrainischen Luftschläge und Seedrohneneinsätze sind ein entscheidender Teil der laufenden Gegenoffensive. Sie finden parallel zu den Kämpfen auf dem Boden statt, in denen die Ukraine bei Bachmut, vor allem aber bei Robotyne im Gebiet Saporischschja Fortschritte macht. Das Institute for the Study of War bestätigte am Wochenende, dass die Ukraine bei Werbowe – nahe Robotyne – die dritte Staffel der Surowikin-Linie, dem unter Ex-Oberbefehlshaber Sergej Surowikin errichten System von Sperrbauwerken, durchbrochen hat. Ob ein größerer, operativ bedeutender Durchbruch möglich sei, hänge unter anderem von den russischen Reserven und der verbliebenen ukrainischen Kampfkraft ab, trug das Institut am Montag nach. Das Institut zitiert einen Kreml-Insider, nach dessen Angaben Präsident Wladimir Putin seinem Verteidigungsminister Sergej Schoigu eine Frist bis Anfang Oktober gesetzt habe, um den ukrainischen Vorstoß zu stoppen. Das könnte das russische Vorgehen erklären, das zu hohen Verlusten bei den Besatzern führt: kein Zurückweichen auf günstiger zu verteidigende Linien, ständige - erfolglose - Gegenangriffe.
Nur noch 30 bis 45 Tage habe die Ukraine Zeit für ihre Offensive, dann setze die Schlammperiode ein, hatte US-Generalstabschef Mark Milley geunkt. Der für die Südfront zuständige ukrainische General Oleksander Tarnawski hielt dem entgegen, man werde im Winter weiterkämpfen und könne das. Sicher muss die Ukraine ihr Ziel, die Großstadt Melitopol zu erreichen, zurückstellen. Näher, nur noch 15 Kilometer hinter der Front, liegt die Kleinstadt Tokmak. Wenn die ukrainischen Truppen zum Stadtrand von Tokmak vorstoßen könnten, unterbrächen sie die West-Ost-Bahnstrecke, die für die Treibstoffversorgung der Besatzer (via Krim) bisher unentbehrlich ist. Eine Alternative wären Seetransporte – aber durch ihre Angriffe auf die Schwarzmeerflotte schränkt die Ukraine diese Kapazitäten ein und versucht eben auch, die Halbinsel selbst militärisch unbrauchbar zu machen.
Die große Frage: So viel Tod für so wenig?
Die Kämpfe bei Robotyne sind somit viel mehr als eine Schlacht um ein paar Dörfer, als die sie oft verspottet werden. „So viel Tod für so wenig?“, hat Ukraine-Skeptiker Elon Musk auf seinem Dienst X (einst Twitter) gefragt.
Aber ist der bisher erreichte Geländegewinn der richtige Bewertungsmaßstab? Von Phillips O’Brien stammt der provozierende Satz, es habe im Zweiten Weltkrieg keine Entscheidungsschlacht gegeben. Selbst ein Desaster wie Stalingrad ist für ihn weniger wichtig als das Ergebnis des alliierten Luftkriegs gegen die deutsche Industrie und die deutsche Logistik. Nun kann die Ukraine keinen strategischen Luftkrieg gegen Russland führen. Aber sie kann durch Luftschläge – wie auf der Krim oder zuletzt gegen eine russische Drohnenfabrik in Kasan 1000 Kilometer hinter der Front – eine Schwächung der russischen Militärmacht anstreben. Und beim Bodenkrieg um Robotyne herum geht es nicht um möglichst viele Quadratkilometer, sondern um die Unterbrechung von Nachschublinien: indirekte Kriegsführung, wie sie der britische Militärtheoretiker Basil Liddell Hart schon vor 100 Jahren verlangte.
Dennoch, so viele Tote für so wenig? Sollte man die noch besetzten 100 000 Quadratkilometer nicht einfach Russland überlassen? Nach US-Schätzungen waren bis August 70 000 ukrainische Soldaten in diesem Krieg gestorben und 120 000 russische. Wie viele sollen es noch werden?
Wer eine Antwort sucht, sollte zuerst nach Russland blicken – etwa auf die Vernichtungsrhetorik im russischen Staatsfernsehen. Oder den monströsen Ukraine-Plan russischer Wissenschaftler um Sergej Alexandrowitsch Karaganow, den an der Moskauer Wirtschaftshochschule lehrenden Ehrenvorsitzenden des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Demnach soll die komplette Energie-, Industrie- und Verkehrsinfrastruktur des Landes zerstört werden, übrig bleiben soll ein reines Agrargebiet, das als Pufferzone zum feindlichen Westen dient. Ein bis zwei Millionen Ukrainer sollen nach Sibirien deportiert werden. Ukrainische Kriegsgefangene sollen Zwangsarbeiter werden. Am 4. September haben die Analysten Sergey Utkin und Janis Kluge darauf aufmerksam gemacht – bisher ohne viel Echo. Karaganow hat mit einer Idee einer „Eurasien“-Großraumordnung großen Einfluss auf die Außenpolitik seines Landes und gilt als enger Berater von Präsident Wladimir Putin.
Wenn man so etwas liest, versteht man, warum Selenskyj die Krim unbedingt militärisch neutralisieren will. Wo immer die Ukrainer von Russland besetzte Gebiete befreiten, fanden sie Folterkammern und Massengräber. 100 000 Quadratkilometer in russischer Hand hieße: In einem Teil Europas von der Größe Portugals wären dauerhaft Folter und Mord, Inhaftierung in „Filtrationslagern“ und die Verschleppung von Kindern zu dulden. Das will nach allen bekannten Umfragen die große Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung nicht hinnehmen.