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Virus-WelleKinderkliniken in Deutschland am Limit – wieder einmal

Lesezeit 4 Minuten
ARCHIV - 25.11.2021, Baden-Württemberg, Stuttgart: Ein am Respiratorischen Synzytial-Virus (RS-Virus oder RSV) erkrankter Patient liegt auf einer Kinderstation des Olgahospitals des Klinkums Stuttgart in einem Krankenbett.

Kaum noch ein Kinderbett frei: Auch in NRW behandeln die Kliniken derzeit ungewöhnlich viele RSV-Infektionen.

Eine Virus-Welle unter Säuglingen bringt viele Krankenhäuser in Nöte. Kommt deshalb die Maskenpflicht zurück? Wir haben mit Klinikchefs gesprochen und bei Gesundheitsminister Lauterbach nachgefragt.

Als vor gut zwei Jahren wegen der Corona-Pandemie eine Überlastung der Kliniken drohte, wurde das gesamte Land in den Lockdown geschickt. Jetzt laufen Kinderkliniken wegen einer Welle an Viruserkrankungen der Atemwege über – aber die Politik schaut bislang weg. Betroffen sind Säuglinge und Kleinkinder. So viele wie nie müssen wegen der gefährlichen Infektion mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) künstlich beatmet werden. Die Lage ist so dramatisch, dass Patienten sogar über Landesgrenzen hinweg verlegt werden. Kinderärzte fordern deswegen bereits die Rückkehr zur Maskenpflicht.

Wie dramatisch ist die Lage in den Kliniken derzeit?

„Angespannt und bedrohlich, aber nicht hoffnungslos“, sagt zum Beispiel Florian Urlichs, Chefarzt an der Osnabrücker CKO-Kinderklinik. Normalerweise gibt es hier 21 Betten, nun werden 23 kleine Patienten stationär behandelt, 18 wegen einer RS-Infektion, drei von ihnen liegen auf der Intensivstation. „Das ist für alle eine sehr belastende Situation.“

„Wir sind immer wieder gezwungen, Kinder in andere Kinderkliniken zu verlegen. Inzwischen suchen wir an manchen Tagen verfügbare stationäre Betten NRW-weit“, heißt es in einem Brandbrief eines Kinderklinik-Chefs im Bergischen Land an den Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Der Austausch mit den anderen pädiatrischen Abteilungen zeigt, dass alle Kinderkliniken momentan am absoluten Limit arbeiten und ihre Patienten quer durchs Bundesland verschicken müssen.“ Die Klinik sieht sich längst gezwungen, planbare Behandlungen komplett zu stoppen, um alle Kapazitäten für die Akutversorgung zu nutzen. Viele der kleinen Patienten, „die andernfalls sofort stationär aufgenommen worden wären“, werden gerade nur ambulant versorgt, schreibt der Klinikchef.

Philippe Stock ist Präsident der Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie und Direktor am Altonaer Kinderkrankenhaus in Hamburg. „Wir haben derzeit so viele Säuglinge und Kleinkinder, die mit einer RSV-Infektion ins Krankenhaus kommen, wie noch nie“, sagt er. Er musste zwar noch keinen Patienten abweisen. Andere Hamburger Kliniken hätten aber schwerkranke Kinder nach Niedersachsen oder Schleswig-Holstein schicken müssen.

Woran liegt es, dass sich die Lage so verschärft hat?

Mindestens drei Gründe gibt es dafür: Die RSV-Welle ist in diesem Jahr besonders krass, weil die Corona-Maßnahmen – etwa die lange Zeit des Homeschoolings und das Tragen von Masken – die Kinder in den vergangenen zwei Jahren vor Atemwegserkrankungen geschützt haben. „Die Immunsysteme, die eigentlich jährlich trainiert werden, sind aktuell recht unerfahren. Daher können sich Krankheitserreger viel leichter ausbreiten als in den vergangenen Jahren“, sagt Kinderlungenärztepräsident Stock. Hinzu kommt, dass auch die Influenza-Welle „untypisch früh“ anrolle. „Sollten sich RSV und Influenza wirklich signifikant zeitlich überschneiden, wäre das eine enorme Belastung“, warnt Stock.

Der dritte Grund: Landauf, landab sind Kliniken durch den Personalmangel in der Pflege enorm geschwächt und überdies unterfinanziert. Tausende Betten wurden abgebaut, aber auch für die ambulante Versorgung fehlen die Ressourcen. BVKJ-Präsident Thomas Fischbach macht darum „das politikseitig zumindest geduldete Kaputtsparen der stationären wie ambulanten Versorgung, untaugliche Finanzierungssysteme und unpraktikable Regelungen zu Personaluntergrenzen“ für die aktuelle Misere verantwortlich.

Was kann man jetzt tun, um die Lage zu entspannen?

Zum Beispiel versuchen, die RSV-Welle einzudämmen. Kinderlungenarzt Stock sagt: „Eine Maskenpflicht würde definitiv helfen, die Infektionen zu begrenzen. Wir müssen je nach Lage entscheiden, ob dies auch im öffentlichen Raum wieder notwendig sein wird.“ Die Politik müsse sich da rantrauen, fordert er – auch wenn das Thema derzeit nicht populär sei. Über Kita- und Schulschließungen dürfe aber nicht wieder diskutiert werden.

Ein konkreter Wunsch der Praktiker in den Kinderkliniken, um durch die akute Krise zu kommen, wäre die Erlaubnis, auch mit weniger als der vorgeschriebenen Zahl an Pflegekräften arbeiten zu dürfen. „Wenn wir die Pflegeuntergrenzen auch in einer Situation wie dieser zwingend einhalten müssen, schränkt das die Versorgungskapazitäten weiter ein. Die Folge wäre, dass wir Kinder nicht versorgen können und ablehnen müssen“, so Stock.

Und was sagt Minister Karl Lauterbach dazu?

Krankenhausplanung „ist Sache der Länder“, heißt es aus dem SPD-geführten Bundesgesundheitsministerium. RSV-Alarm? Fehlanzeige. Zudem findet Lauterbach, er habe bereits seinen Teil beigetragen. Denn am vorigen Freitag verabschiedet der Bundestag ein Entlastungspaket samt Erlösgarantien für Kinderkliniken. Dadurch werde die Versorgung von Kindern und Jugendlichen „abgesichert“.

Das wiederum bringt Kinder- und Jugendärztepräsident Fischbach auf die Zinne. Das gerade grassierende RS-Virus sei „nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, sagt er. Um etwas an der desolaten Lage zu verbessern, müsse die Politik nicht nur auf die Kliniken schauen, sondern auch die Rahmenbedingungen für Kinder- und Jugendarztpraxen grundlegend verbessern. „Es geht schon lange nicht mehr um Sektorenprobleme, es geht um das Ganze!“, schreibt er an Kollegen: „Aus meiner Sicht muss der gemeinsame Protest im Lande lauter und unüberhörbar werden!“.