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Robert Habeck zu Moria„Deutschland hätte längst mehr Menschen holen sollen“

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Der Vorsitzenden der Grünen, Robert Habeck

  1. In der Notsituation jetzt dürfe sich Deutschland nicht weiter hinter anderen europäischen Staaten verstecken, sagt Robert Habeck zur Flüchtlingspolitik nach dem Brand in Moria.
  2. Mit dem Grünen-Vorsitzenden sprachen Daniela Greulich, Helge Matthiesen, Nils Rüdel und Sandro Schmidt.

Nach dem verheerenden Brand im Flüchtlingslager in Moria zeigt in der Diskussion über eine mögliche Aufnahme der Gestrandeten jetzt jeder auf den anderen. NRW und Bayern etwa sagen, wir würden gerne, verweisen aber auf die Bundesregierung, und diese auf die EU...Ja, dabei hat auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet die Handynummer von Kanzlerin Merkel. Und vor allem: Markus Söder ist der Parteivorsitzende von Innenminister Horst Seehofer. Wenn er wirklich gewillt ist, Menschen aus Moria aufzunehmen, dann soll er beim CSU-Bundesinnenminister und der Bundesregierung Druck machen. Es ist ein perfider Kreislauf: Die einen verweisen auf die anderen. Das stinkt zum Himmel! Die Zustände auf Moria waren doch bekannt. Deutschland hätte längst mehr Menschen aus diesem Elend holen müssen. Doch die Bundesregierung hat es ausgesessen. Aber jetzt darf es keine Ausreden mehr geben.

Muss Deutschland allein vorangehen? Die Chancen auf eine europäische Lösung stehen ja schlecht.

In der Notsituation jetzt darf Deutschland sich jedenfalls nicht weiter hinter anderen europäischen Staaten verstecken. Grundsätzlich wäre aus Sicht der Grünen ein europäischer Verteilungsschlüssel natürlich ideal. Aber wir sehen ja das Veto einiger Länder.

Zur Person

Robert Habeck führt seit Januar 2018 die Grünen als Co-Vorsitzender mit Annalena Baerbock. Zuvor war er Energiewende-Minister und stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Der 51-jährige Schriftsteller ist verheiratet und hat vier Söhne. (EB)

Deswegen ist die zweitbeste Lösung, den Mitgliedsländern und Kommunen finanzielle Unterstützung zu geben, die freiwillig Kontingente von Flüchtlingen aufnehmen. Sie bekommen mit jedem Flüchtling ein Budget, das Kosten für Wohnung, Bildung und Integration abdeckt. Polen wird sich dann zwar vielleicht weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, aber Danzig wäre vielleicht bereit. Das wäre eine europäische Solidaritätslösung.

Ist der Vorschlag von Merkel und Macron, die in einer gemeinsamen Aktion mit anderen EU-Ländern 400 unbegleitete Minderjährige übernehmen wollen, vielleicht der Anfang einer solchen europäischen Lösung?

Angesichts der großen Aufnahmebereitschaft im Land und der schieren Not auf Moria ist das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Nach dem Feuer sind knapp 13 000 Menschen obdachlos. Sie alle müssen in Europa in Sicherheit gebracht werden. Und die Asylverfahren zügig angeschlossen werden.

Wie vermeiden wir eine Situation wie 2015?

Der Lernschritt aus 2015 müsste eigentlich sein, dass man Situationen nicht eskalieren lassen darf. Das Nicht-Handeln führt zu unbeherrschbaren Lagen, so wie es damals geschehen ist. Jetzt geht es um den Vorschlag, dass man Kontingente holt. Das wäre geordnet und geplant. Es kämen nicht mehr Leute in die Kommunen, als Kapazitäten für sie vorhanden sind.

Die Steuerschätzer haben jetzt in der Corona-Krise ihre Prognose für die Einnahmen der nächsten Jahre vorgelegt. Müssen wir uns auf neue Sparrunden einstellen?

Mitten in der Krise zu sparen wäre schädlich. Natürlich darf man das Geld nicht einfach in irgendwelchen Milliardengräbern verballern, ein Berliner Flughafendesaster reicht. Aber insgesamt muss die öffentliche Hand eher mehr investieren als weniger.

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In den Kommunen klafft eine öffentliche Investitionslücke in der Infrastruktur von rund 138 Milliarden Euro – von nicht-sanierten Brücken bis hin zu undichten Schuldächern. Neue Aufgaben wie die Digitalisierung oder der Breitbandausbau kommen hinzu. Sparen rettet vielleicht die schwarze Null, aber die Verschuldung für die Zukunft wird nur größer.

Wenn nicht sparen, was dann?

Die Bundesregierung muss Steuerbetrug ernsthaft bekämpfen. Es ist auch eine Frage von Anstand, dass die Steuern, die bezahlt werden müssen, auch bezahlt werden. Wenn man den Kampf gegen Steuerbetrug wirklich führte, ließen sich zweistellige Milliardenbeträge zurückholen.

Was heißt das konkret?

Es bräuchte unter anderem eine Anzeigepflicht für Steuertricks. Auf nationaler Ebene müssen – anders als in der EU – die Modelle, mit denen Firmen ihre Steuern gestalten, bislang nicht gemeldet werden. Damit sind Unternehmen dem Staat immer um Längen voraus. Bis der Staat die Schlupflöcher schließen kann, sind längst Steuerausfälle verursacht. Ein zweites Beispiel: Die Digitalkonzerne verdienen sich dumm und dämlich und zahlen dafür kaum Steuern. Wie will man dem Buchhändler in Bonn ins Gesicht schauen, der seine Gewerbesteuer zahlen soll, wenn Amazon das nicht tut? Aber eine Digitalkonzernsteuer auf EU-Ebene haben Finanzminister Olaf Scholz und die Bundesregierung bisher immer blockiert.

Wer soll außerdem stärker herangezogen werden?

Absolut notwendig wäre die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene gegen den milliardenschweren Umsatzsteuerbetrug. Durch diesen Betrug entsteht Deutschland jährlich ein Schaden zwischen 5 und 14 Milliarden Euro. Aber auch da blockiert die große Koalition die europäische Zusammenarbeit.

Und was muss noch geschehen?

Wir brauchen mehr Steuertransparenz bei großen, internationalen Konzernen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu erfahren, welche Gewinne sie in welchem Land machen, wo sie wirklich aktiv sind und wo sie Steuern zahlen. Durch Gewinnverschiebung zwischen verschiedenen Ländern rechnen viele dieser Konzerne nach wie vor ihre Steuern künstlich klein. Und wieder ist es die deutsche Bundesregierung, die Fortschritte auf europäischer Ebene verhindert. Man muss aufpassen, dass da nicht ein Generalvorwurf an die Politik entsteht: Bei den Großen wird weggeschaut, während die Bürgerinnen, kleine Betriebe ordentlich ihre Steuern zahlen. Dann erodiert das Vertrauen.