Die einen wollen die Migrationspolitik verschärfen - mit welcher Mehrheit auch immer. Die anderen warnen vor dem Einsturz der Brandmauer zur AfD. Showdown im Bundestag.
RegierungserklärungScholz stößt eine scharfe Warnung in Richtung Merz aus
Vor der Abstimmung über die Migrationspolitik im Bundestag hat Kanzler Olaf Scholz dem Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz mit scharfen Worten vorgeworfen, die klare Abgrenzung zu rechtsextremen Parteien aufzugeben. „Sie nehmen die Unterstützung der AfD für Ihre rechtswidrigen Vorschläge offen in Kauf“, rief er dem Oppositionsführer in seiner Regierungserklärung im Parlament zu. Es sei die Unterstützung derer, „die unsere Demokratie bekämpfen, die unser vereintes Europa verachten, die das Klima in unserem Land seit Jahren immer weiter vergiften“. Dies sei ein „unverzeihlicher Fehler“.
Seit Gründung der Bundesrepublik vor über 75 Jahren habe es immer einen klaren Konsens aller Demokraten gegeben, mit extremen Rechten nicht gemeinsame Sache zu machen, sagte Scholz. „Sie haben diesen Grundkonsens unserer Republik im Affekt aufgekündigt.“
Scholz: „Ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein“
Die Vorschläge der Union zur Migrationspolitik nannte Scholz rechtswidrig und sprach Merz die Regierungsfähigkeit ab, weil er solche Vorschläge mache. „Es gibt Grenzen, die darf man als Staatsmann nicht überschreiten“, sagte er. „Politik in unserem Land ist doch kein Pokerspiel. Der Zusammenhalt Europas ist kein Spieleinsatz. Und ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein. Denn er entscheidet im schlimmsten Fall über Krieg oder Frieden.“
Am späteren Nachmittag wird der Bundestag nach einer etwa zweistündigen Debatte über die Regierungserklärung über zwei Anträge der Union abstimmen. Merz hat angekündigt, dabei auch Ja-Stimmen der AfD in Kauf nehmen zu wollen. Er weist aber den Vorwurf zurück, er reiße damit die „Brandmauer“ zur AfD ein. SPD und Grüne sehen trotzdem einen historischen Tabubruch.
Wahlkampf seit Aschaffenburg von Migrationsdebatte bestimmt
Ausgangspunkt für die aktuelle Migrationsdebatte war der Messerangriff von Aschaffenburg mit zwei Toten, der vor einer Woche den Bundestags-Wahlkampf komplett umkrempelte. Ein offenbar psychisch kranker Mann aus Afghanistan soll zwei Menschen getötet haben, darunter einen zweijährigen Jungen mit marokkanischen Wurzeln aus einer Kindergartengruppe, und weitere schwer verletzt haben. Der 28 Jahre alte Tatverdächtige war ausreisepflichtig.
Seitdem wird im Wahlkampf praktisch nur noch über Migration und den Umgang mit der AfD gestritten. Die Union sieht sich durch den Fall in ihrer Forderung nach einer massiven Verschärfung des Vorgehens gegen irreguläre Migration bestärkt. Die rot-grüne Minderheitsregierung sieht das Problem eher bei der Umsetzung der bestehenden Regeln durch die zuständigen Behörden.
Gedenkminute zum Auftakt der Debatte - Steinmeier mahnt
Vor Beginn der Debatte gedachten die Abgeordneten der Opfer von Aschaffenburg. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas mahnte eine faire Diskussion an. Zuvor hatte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Gedenkstunde für die Millionen Opfer des Holocaust unter der Nazi-Herrschaft mahnende Worte gefunden.
Er warnte vor Rückschritten der deutschen Demokratie - allerdings ohne auf die aktuelle Debatte über eine Zusammenarbeit mit der AfD einzugehen. „Gehen wir nicht zurück in eine dunkle Zeit. Wir wissen es besser. Machen wir es besser“, sagte er und forderte: „Nehmt die Feinde der Demokratie ernst.“
Zwei Anträge und ein Gesetzentwurf
Im zentralen Antrag der Union geht es um einen von Merz vorgelegten Fünf-Punkte-Plan zur Bekämpfung der irregulären Migration. Gefordert werden darin unter anderem dauerhafte Grenzkontrollen zu allen Nachbarländern, ein Einreiseverbot für alle Menschen ohne gültige Einreisedokumente, auch wenn sie ein Schutzgesuch äußern. Ausreisepflichtige sollen inhaftiert werden und Abschiebungen müssten täglich erfolgen. Ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder sollen in einem unbefristeten Ausreisearrest bleiben, bis sie freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren oder die Abschiebung vollzogen werden kann.
Der zweite Antrag trägt den Titel „Für einen Politikwechsel bei der Inneren Sicherheit“. Die Unionsfraktion listet hier 27 Punkte auf, etwa Mindestspeicherfristen für IP-Adressen, mehr technische Befugnisse für Ermittler etwa zur elektronischen Gesichtserkennung, einen verbesserten Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden, eine Stärkung der Nachrichtendienste sowie härtere Strafen für Angriffe auf Polizisten, Rettungskräfte und Helfer.
Erst am Freitag steht das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz der Unionsfraktion zur finalen Abstimmung. Die Neuregelung soll unter anderem den Familiennachzug zu Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus beenden.
AfD und FDP wollen Fünf-Punkte-Plan zustimmen
Ob die Union für ihre beiden Anträge eine Mehrheit bekommt, ist offen. AfD und FDP haben zumindest zu Merz' Fünf-Punkte-Plan Zustimmung signalisiert. Die Union würde mit diesen beiden Fraktionen zusammen auf 362 Stimmen kommen, wenn alle Abgeordneten dafür stimmen. Der Bundestag hat 733 Abgeordnete, die absolute Mehrheit liegt bei 367 Stimmen. Für einen Beschluss über die Anträge reicht aber die einfache Mehrheit aus.
SPD, Grüne und Linke lehnen die Unions-Anträge ab. Das BSW von Sahra Wagenknecht will sich enthalten. Am ehesten könnte der Gesetzentwurf am Freitag durchgehen. Diesem wollen neben Union auch AfD, FDP und BSW zustimmen.
Auch wenn die Anträge beschlossen werden, es würde zunächst nichts ändern. Für die Bundesregierung haben sie keine bindende Wirkung. Kanzler Scholz hat bereits angekündigt, nicht tätig werden zu wollen. Er spricht deshalb von „heißer Luft“.
Kirchen befürchten „massiven Schaden“ für die Demokratie
Unmittelbar vor der Abstimmung stellten sich die beiden großen Kirchen mit ungewöhnlich scharfen Worten gegen den Unions-Kurs. Die Fraktionen hätten sich mit der Auflösung der Ampel-Koalition verständigt, keine Abstimmungen herbeizuführen, in der die Stimmen der AfD ausschlaggebend seien, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Berliner Vertreter der katholischen Bischöfe und des Rats der Evangelischen Kirche. „Wir befürchten, dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt, wenn dieses politische Versprechen aufgegeben wird.“
Zeitpunkt und Tonlage der Debatte seien zutiefst befremdlich, kritisieren die Kirchen weiter. „Sie ist dazu geeignet, alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren, Vorurteile zu schüren und trägt unserer Meinung nach nicht zur Lösung der tatsächlich bestehenden Fragen bei.“
Umfrage: Mehrheit gegen komplette Ausgrenzung der AfD
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov gibt es in der Bevölkerung durchaus größere Sympathien für ein Öffnen der Brandmauer. Demnach haben 22 Prozent der Befragten mit einer Kooperation in einzelnen Sachfragen kein Problem. Weitere 30 Prozent meinen, dass darüber hinaus sogar Regierungskoalitionen mit der AfD möglich sein sollten. Eine Minderheit von etwa 42 Prozent sprach sich in der Befragung grundsätzlich gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD aus.