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Rätselhafte OffensiveWas machen ukrainische Soldaten im russischen Gebiet?

Lesezeit 7 Minuten
Russland, Kursk: Dieses vom amtierenden Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, über seinen Telegrammkanal veröffentlichtes Foto zeigt ein beschädigtes Haus nach Beschuss. Russische Beamte erklärten am Mittwoch, dass sie einen zweiten Tag lang ukrainische Grenzangriffe in einer südwestlichen Grenzprovinz abwehren konnten.

Russland, Kursk: Dieses vom amtierenden Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, über seinen Telegrammkanal veröffentlichtes Foto zeigt ein beschädigtes Haus nach Beschuss. Russische Beamte erklärten am Mittwoch, dass sie einen zweiten Tag lang ukrainische Grenzangriffe in einer südwestlichen Grenzprovinz abwehren konnten.

Ukrainische Einheiten unternehmen überraschende Vorstöße in russisches Territorium, die ukrainische Truppen erobern bereits Gebiete in Kursk. Die Strategie ist umstritten.

Seit Tagen sind ukrainische Truppen im russischen Bezirk Kursk aktiv und eine Nachrichtensperre erschwert die Lageeinschätzung. Russische Militärblogger und einige Ukrainer-Postings sind derzeit die Hauptquellen. Was steckt hinter dem Vorstoß und welche strategischen Ziele verfolgt Kiew?

Was weiß man über die ukrainische Offensive?

Immer noch wenig. Erst am Donnerstag, zwei Tage nach dem Einrücken ukrainischer Truppen in den russischen Bezirk Kursk, äußerten sich zunächst – noch verschlüsselt – Präsidentenberater Mychajlo Podoljak und am Abend dann Präsident Wolodymyr Selenskyj überhaupt über die Offensive. Beide sprachen aber nicht ausdrücklich über Kursk.

Die Ukraine hat eine Nachrichtensperre verhängt. Der überwiegende Teil der Angaben stammt von russischen Militärbloggern, unter anderem vom als einigermaßen verlässlich geltenden Anbieter Rybar, der am Donnerstag eine alarmierende Zwischenbilanz zog: Die Ukrainer seien vom Ort Sudscha aus schon 30 Kilometer auf der Landstraße in Richtung der Bezirkshauptstadt Kursk vorgedrungen.

Auf solche Blogger und vereinzelte Bild- und Videopostings ukrainischer Soldaten stützen sich auch diverse Kartendarstellungen. Sie enthalten Unschärfen. Wenn sich Soldaten vor einer Ortstafel fotografieren lassen, beweist das nicht, dass sie den Ort kontrollieren. Wenn sie auf einer Straße vorrücken, sagt das nichts darüber, was rechts und links davon stattfindet. Sicher erscheint nach Angaben des Institute for the Study of War, dass die Ukrainer zumindest 35 Kilometer tief in russischem Gebiet stehen.

Der Dienst Warmapper, der seit dem russischen Überfall vom 24. Februar 2022 Flächengewinne und -verluste bilanziert, sieht (Stand Freitag 0 Uhr) 155 Quadratkilometer in ukrainischer Hand. Das ist ungefähr so viel Territorium, wie Russland in den letzten Monaten im ukrainischen Bezirk Charkiw erobert hat. Derzeit sind mindestens vier Angriffsachsen in unterschiedliche Richtungen erkennbar, unter anderem in Richtung Kursk und in Richtung der Kleinstadt Lgow, eines bedeutenden Bahnknotens, wo es bereits Evakuierungen geben soll.

Welche Truppen setzen die Ukrainer ein?

Schon in der Vergangenheit gab es von ukrainischem Gebiet aus Vorstöße auf russisches Gebiet – unternommen aber nicht von regulären ukrainischen Einheiten, sondern von exilrussischen Freischärlern der sogenannten Freien Russischen Armee. Das waren kurzfristig angelegte Razzien. Diesmal ist das Bild komplett anders. Auf ukrainischer Seite sollen vier Brigaden – wenn auch vermutlich jeweils nur in Teilen – im Einsatz sein, darunter die 22. Mechanisierte Brigade (in deutscher Terminologie Panzergrenadiere) und die 82. Luftlandebrigade. Das sind erfahrene und hoch motorisierte Einheiten.

Rybar schreibt von insgesamt 1000 ukrainischen Soldaten, tatsächlich dürften es deutlich mehr sein – vielleicht das Doppelte –, und wenn die Ukrainer erobertes Territorium dauerhaft besetzen wollen, werden sie weitere Truppen nachziehen müssen. Und nur mit dem Ziel einer längerfristigen Besetzung lässt sich der Aufwand überhaupt rechtfertigen.

Darf die Ukraine russisches Gebiet besetzen?

Völkerrechtlich ist die Sache klar. Russland hat die Ukraine militärisch angegriffen. Damit herrscht Kriegszustand, das gesamte Territorium beider Staaten ist Kriegsgebiet. Die Ukraine darf den russischen Überfall abwehren und dabei militärisch legitime Ziele in Russland angreifen – auch mit Bodentruppen. Sie darf russisches Gebiet auch besetzen.

Politisch ist es schwieriger. Lange Zeit haben die meisten westlichen Partner den Einsatz von ihnen gelieferter Waffen gegen Ziele in Russland komplett abgelehnt. Diese Restriktion fiel erst in diesem Jahr angesichts der russischen Charkiw-Offensive, wenn auch mit einer Einschränkung: Weitreichende Waffen werden erst gar nicht geliefert – wie der deutsche Taurus –, oder aber ihr Einsatz gegen weiter entfernte Ziele in Russland wird nicht freigegeben – wie offensichtlich bei den britisch-französischen Marschflugkörpern Scalp/Storm Shadow. In welcher Tiefe ein Einsatz westlicher Panzer für die Lieferländer akzeptabel wäre, ist unklar.

Pentagon-Sprecherin Sabrina Singh hat jedenfalls erklärt, die Ukraine tue derzeit nur, was sie tun müsse, um auf dem Schlachtfeld Erfolg zu haben. Ein Eskalationsrisiko sehe man nicht. Ähnlich äußerte sich die Bundesregierung. Beide Regierungen machten aber auch klar, dass sie von der Ukraine nicht vorab eingebunden worden seien. Das ist auch realistisch, aber beide Seiten sind vermutlich auch erleichtert darüber. Der vom „Focus“ befragte Kieler Sicherheitsexperte Joachim Krause glaubt, dass die US-Regierung intern durchaus verärgert ist, weil es ihr Ziel ist, den Konflikt zu begrenzen.

Wie sehen Kritiker den ukrainischen Angriff?

Die Ukraine zahlt für ihr Vorgehen einen hohen Preis. Die in Kursk eingesetzten Truppen würden andernorts dringend gebraucht, etwa bei Pokrowsk im Donbass, wo die Ukrainer schwer unter Druck stehen. Es kommt – wie nicht anders zu erwarten – zu Verlusten, auch von hochwertigem Gerät wie Marder-Schützenpanzern aus deutscher Produktion oder einem von den USA gelieferten Bradley-Schützenpanzer. Bei westlichen Beobachtern wie „Bild“-Reporter Julian Röpcke, aber auch in der Ukraine selbst hat das große Bedenken ausgelöst. Diese sind angesichts des bislang unerwartet großen Erfolges leiser geworden. So hat der ukrainische Blogger Tatarigami, Wortführer der Gegner von Generalstabschef Olexander Syrskyj, wissen lassen, er würde sich freuen, seine Kritik zurücknehmen zu müssen. Dennoch bleibt die Frage, was die Ukraine eigentlich erreichen will.

Welche Erklärungen gibt es für das Vorgehen?

Vier Antworten werden aktuell diskutiert.

Erster Versuch: Der ukrainische Bezirk Sumy, von dem die Offensive ausging, wurde immer wieder vom Bezirk Kursk aus beschossen, und die Ukrainer befürchteten nach der russischen Charkiw-Offensive auch hier einen russischen Bodenangriff. Da mag es Sinn haben, einen Präventivschlag zu führen und eine Pufferzone zu schaffen – aber mit diesem Aufwand?

Zweiter Erklärungsversuch: Die Ukraine zwingt Russland mit der Offensive dazu, hektisch Truppen von anderen Frontabschnitten in den Raum Kursk zu verlegen. Die Offensive, etwa 200 Kilometer von der Charkiw-Front als dem bisher nördlichsten Kampfgebiet entfernt, hat Russland offenbar völlig unvorbereitete getroffen, und nun ist im Kreml guter Rat teuer.

Während die Ukraine aus der Mitte des Landes heraus operiert und jeden Frontabschnitt binnen weniger Stunden erreichen kann, müssen die Russen weite Wege entlang der halbkreisförmig ums ukrainisch gehaltene Gebiet herum verlaufenden Front zurücklegen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Russland Truppen aus dem Gebiet Charkiw abziehen muss. Aber es ist nicht erkennbar, dass Russland seine Angriffe bei Pokrowsk zurückfährt.

Auf die russische Logistik wird die Kursk-Offensive nur begrenzte Auswirkungen haben. Unterbrochen ist nun die Bahnstrecke Brjansk-Charkiw, die für den russischen Nachschub an der Charkiw-Front Bedeutung hat. Hier könnte die Kursk-Offensive für Entlastung sorgen. Aber ist auch hier der Preis nicht zu hoch? Die russische Charkiw-Offensive, unter hohen Verlusten mit schlecht ausgebildeten Fußtruppen geführt, ist ja eher ein Ablenkungsmanöver, im Zentrum des russischen Interesses steht eben der Donbass.

Dritter Ansatz: der psychologische. Russland solle spüren, was es getan hat, sagte Selenskyj in seiner Fernsehansprache vom Donnerstagabend. Die Ukraine will den Krieg somit nach Russland tragen. Tausende Zivilisten sind in Russland auf der Flucht, und die russische Militärführung hat sich wieder einmal bis auf die Knochen blamiert. Die Behauptung, man habe die ukrainische Offensive gestoppt, findet nicht einmal bei kremlnahen Bloggern wie Rybar Glauben.

Aber Präsident Wladimir Putin, der in einer TV-Schalte den Kursker Gouverneur zum Rapport bestellte, hat es bislang noch immer geschafft, sich von den Fehlern seiner Untergebenen zu distanzieren. Wird die Ukraine wirklich eine Krise in Russland herbeiführen können, die Putin selbst gefährdet? Schwer vorstellbar, dass sie die Ressourcen hat – und dass die USA, die einen chaotischen Zerfall Russlands fürchten, dies zulassen würden.

Vierter, halbwegs plausibler Erklärungsversuch: Kiew sichert sich ein Faustpfand. Frieden gewinne man durch Stärke, hat Podoljak erklärt. Dass die Ukraine mögliche Waffenstillstandsverhandlungen aus einer Position der Stärke führen müsse, ist zwar auch das Mantra des Westens. Aber woher soll diese Stärke kommen, wo man doch Waffenlieferungen bewusst limitiert und um jeden Preis eine Situation vermeiden will, die die Stabilität des Putin-Regimes gefährdet? Dass der Preis des Krieges für Putin irgendwann zu hoch werden möge, ist ein frommer Wunsch bei einem Diktator, der bedenkenlos über 100000 Soldaten in den Tod geschickt hat und wohl weitere Hunderttausende folgen lassen wird.

Also zeigt die Ukraine Stärke, indem sie russisches Territorium besetzt. Der kleine Ort Sudscha ist eine hochwertige Eroberung. Hier steht die zentrale Übergabestation, durch die russisches Pipelinegas über ukrainische Transitleitungen in die EU-Länder gelangt, die es noch beziehen – Ungarn, die Slowakei, Österreich. Auf dem Weg nach Kursk liegt dann noch das Atomkraftwerk im Ort Kurtschatow – mit vier Blöcken zwei Drittel so groß wie das russisch besetzte ukrainische Kraftwerk Saporischschja.

Sicher, auch wenn die Ukraine bei Kursk noch ein paar Hundert Quadratkilometer mehr erobern sollte, wäre das keine ausreichende Tauschmasse, um mehr als 100000 von Russland okkupierte Quadratkilometer ukrainischen Landes freizubekommen. Aber das Faustpfand bei Kursk könnte, wenn die Ukraine es denn halten kann, Putin eines Tages motivieren, von seinen ultimativen Vorbedingungen für Verhandlungen abzurücken.

Bislang fordert er ja nicht nur Gebietsabtretungen, sondern de facto die vollständige Kapitulation der Ukraine. Wenn die Kursk-Offensive langfristig zur Änderung dieser Haltung führen sollte, dann wäre sie ein paradoxer Beitrag zur Deeskalation. Das setzt aber voraus, dass die Ukraine ein mit hohen Risiken behafteten Einsatz durchhalten kann.