Der Kreml lässt keine Zweifel an seinen wahren Absichten – und treibt die „Russifizierung“ voran. Experten und Kiew sprechen von Genozid.
Putins grausames Dekret„Ethnische Säuberung, die es in dem Ausmaß seit 1945 in Europa nicht gegeben hat“

Der russische Diktator Wladimir Putin beim Jahreskongress der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer in dieser Woche. (Archivbild)
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Die Mitteilung der Nachrichtenagentur Tass liest sich zunächst harmlos: Ukrainische Staatsbürger, die sich ohne legale Grundlage in Russland aufhalten, müssen ihren Aufenthalt bis zum 10. September „legalisieren“ oder das Land verlassen, berichtete die russische Staatsagentur. Demnach habe Kremlchef Wladimir Putin ein entsprechendes Dekret erlassen. Im Dokument, das der Kreml veröffentlicht hat, ist davon die Rede, dass Ukrainer, die sich in Russland befinden, ihren „Rechtsstatus regeln“ müssten, ansonsten drohe ab September die Deportation.
Die technokratisch klingende Anordnung hat grausame Konsequenzen. Der Kreml hat neben der Krim vier weitere ukrainischen Regionen im letzten Jahr zum Staatsgebiet erklärt. Putins Dekret gilt also auch für jene Ukrainer, die trotz russischer Besatzung dort ausharren, weil es ihre Heimat ist oder ihnen die Flucht aufgrund der Kampfhandlungen bisher nicht gelungen ist.
Gewalt, Terror, Folter in den von Russland besetzten Gebieten
In den besetzten Gebieten herrschen weiterhin Gewalt, Terror und Folter, viele Ukrainerinnen und Ukrainer leben dort im Schatten und versuchen nicht in den Fokus der russischen Besatzungstruppen zu geraten. Immer wieder gab es Berichte über Morde, Vergewaltigungen und Folter an der ukrainischen Bevölkerung. Insbesondere Ukrainer, die es ablehnen, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, stehen im Fokus der Gewalttaten und Schikanen.
Unklar ist zudem, wie die nach aktuellen Schätzungen rund 500.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die in den besetzten Gebieten ausharren, diese überhaupt in Richtung des Landesinneren verlassen sollen. Da es derzeit keine humanitären Korridore für Flüchtlinge entlang der Frontlinie gibt, müssten die Ukrainer die lebensgefährliche Gefechtszone offenbar schutzlos durchqueren, um die besetzten Gebiete zu verlassen.
Wladimir Putin treibt „Russifizierung“ voran
Die Alternative ist die sogenannte „Russifizierung“. Laut dem russischen Innenministerium seien mittlerweile rund 3,5 Millionen russische Pässe an Ukrainer ausgestellt worden. Die Ukraine betrachtet das als „illegal“, die aufgezwungenen Pässe seien ungültig, erklärte Kiew. Vielen Ukrainern könnte nun dennoch nichts anderes übrig bleiben, als einen russischen Pass anzunehmen.
Wer das nicht tut, muss Berichten zufolge bereits jetzt mit heftigen Schikanen rechnen, darunter der Entzug der Arbeitserlaubnis, der Ausschluss aus dem gesamten Gesundheits- und Bildungssystem und die Beschlagnahmung von Eigentum. Mit diesen Maßnahmen will Moskau die Russifizierung der besetzten Gebiete vorantreiben. Ab September droht den Ukrainer vor Ort nun auch noch die Deportation.
Putin will Trump zur Anerkennung annektierter Gebiete bewegen
Dass Russland keineswegs plant, die besetzten Gebiete zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen, wurde auch vor Putins Dekret in dieser Woche noch einmal deutlich. Nach Angaben der russischen Zeitung „Kommersant“ hat der Kremlchef rund um sein letztes Gespräch mit Donald Trump am Dienstag gegenüber russischen Wirtschaftsvertretern erklärt, dass er die USA dazu bewegen wolle, die russische Annexion der Krim und vier weiterer Regionen anzuerkennen.

Anwohner schließen die Fenster eines Wohnhauses mit Sperrholz nach russischem Beschuss in Dobropillja in der Region Donezk in der Ostukraine. (Archivbild)
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Russland konnte große Teile dieser Gebiete bisher jedoch nicht erobern, auch Großstädte wie Cherson und Saporischschja liegen in dem Gebiet, das Moskau beansprucht, das aber von der Ukraine kontrolliert wird. Sollte Trump die illegale russische Annexion anerkennen, werde Russland eventuell in Zukunft davon absehen, noch größere Ansprüche zu erheben, etwa auf die Großstadt Odessa, soll Putin außerdem erklärt haben, wie die Moskauer Zeitung berichtete.
„Putin verfolgt eine Politik, die als Völkermord gelten kann“
Putins Pläne, die sich hinter der harmlos technokratischen Mitteilung vom Donnerstag verbergen, sorgen bei westlichen Experten für Entsetzen. „Wladimir Putin verfolgt in der russisch besetzten Ukraine eine Politik, die mit ziemlicher Sicherheit der Definition einer ethnischen Säuberung entspricht und als Völkermord gelten kann“, schrieb die Denkfabrik Atlantic Council in einem Bericht über das Vorhaben des Kremls.
Der Kremlchef wolle die ukrainische Identität „rücksichtslos auslöschen“, hieß es weiter. „Wo immer russische Truppen vorrücken, wird die lokale Bevölkerung massenhaft verhaftet, um potenzielle Andersdenkende auszumerzen“, berichtete Peter Dickinson, Autor des Atlantic Council. Das britische Magazin „Economist“ beschreibt die Zustände in den besetzten Gebieten unterdessen als „totalitäre Hölle“.
Russland hat mindestens 20.000 ukrainische Kinder verschleppt
Moskau wird zudem vorgeworfen, mindestens 20.000 ukrainische Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland verschleppt und in russischen Familien untergebracht zu haben.
Zuletzt hatte Putin für Empörung gesorgt, als er sich öffentlich mit einer Frau getroffen hatte, die von „ihrer Tochter“ berichtete, die sie in der Ukraine „gefunden habe“ und die nun ihr Leben bereichern würde. Auch dieses Kind wurde von Russland entführt. Der Kremlchef erkundigte sich bei der Begegnung nach dem Alter des Mädchens und lächelte zufrieden.
„Dies ist ein Akt des Völkermords“
Die Verschleppung der Kinder ist ein Kriegsverbrechen, der Internationale Strafgerichtshof hat deshalb bereits im März 2023 Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten erlassen. Putin treibt seine faschistischen Pläne in der Ukraine trotzdem weiter voran und unterstreicht damit noch einmal, dass es Russland nicht nur um den Kampf gegen die ukrainische Regierung geht, sondern die gesamte ukrainische Identität und Staatlichkeit ausgelöscht werden soll.
„Dies ist ein Akt des Völkermords“, kommentierte entsprechend Marko Mihkelson, der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des estnischen Parlaments, das Dekret des Kremlchefs. Auch der Historiker und Russland-Experte Matthäus Wehowski sprach auf der Plattform X von „Genozid und ‚Russifizierung‘“. Putins Dekret bedeute eine „ethnische Säuberung, die es in diesem Ausmaß seit 1945 in Europa nicht gegeben hat“, fügte Wehowski an.
Ukraine: Kreml zeigt „wahres Ziel“
Kiew reagierte am Freitag auf das Dekret des Kremlchefs. „Wir betonen, dass diese systematischen Deportationen und Verfolgungen Teil der Völkermordpolitik Russlands gegen das ukrainische Volk sind“, erklärte Außenamtssprecher Heorhii Tykhyi in Kiew und fügte hinzu: „Der Kreml zeigt einmal mehr, dass sein wahres Ziel darin besteht, die ukrainische Staatlichkeit zu zerstören und ukrainische Bürger zu verfolgen.“