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Präsident des Bundesverfassungsgerichts„Niemand verliert Grundrechte in der Pandemie“

Lesezeit 8 Minuten
Harbarth

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth

  1. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, zum Umgang mit der Corona-Krise und der wichtigen Rolle des Parlamentes in der Pandemie.
  2. Mit Harbarth sprachen Gregor Mayntz und Henning Rasche

Herr Präsident, sehen Sie die Gefahr, dass diese Krise auch zu einer Krise der Demokratie wird?Schon vor der Pandemie bestanden Herausforderungen: Autoritäre Herrschaftssysteme erfreuen sich neuer Beliebtheit, freiheitliche Systeme werden infrage gestellt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Pandemie dem Vorschub leistet. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Impfstoffe, die so schnell entwickelt wurden wie noch nie und auf die sich nun die Hoffnungen der Menschen richten, gerade aus den freiheitlichen Staaten, den Rechtsstaaten kommen. Bei allem Unmut haben wir angesichts dessen wahrlich keinen Grund, einen Einwand gegen die Leistungskraft freiheitlich-demokratisch verfasster Gesellschaften zu erheben. Eine Krise der Demokratie haben wir nicht. Sie wäre auch weder gerechtfertigt noch würde sie etwas zum Besseren verändern.

Im März 2020, als die Pandemie Deutschland erstmals traf, hieß es, dass jetzt die Stunde der Exekutive schlage. Sie schlägt mittlerweile fast ein ganzes Jahr. Ist diese Verschiebung etwas, was der Rechtsstaat aushält?

Krisen sind in der Tat, um das geflügelte Wort zu bemühen, die Stunde der Exekutive. Das ändert nichts daran, dass das oberste Verfassungsorgan nicht die Exekutive, sondern die Legislative ist. Sie ist unmittelbar vom Deutschen Volk gewählt. Grundlegende Entscheidungen müssen vom Parlament getroffen werden. In einem frühen Stadium der Pandemie, in dem man herausfinden muss, welche Maßnahmen überhaupt wirken, müssen die Handlungsspielräume der Exekutive aber größer sein als in einer Phase, in der dies besser erkennbar ist. Je mehr man weiß, desto stärker muss die Legislative die staatlichen Handlungsmöglichkeiten benennen.

Minimale Grundrechtseinschränkungen waren vor der Pandemie Gegenstand langer Debatten. Hätten Sie sich vorstellen können, dass die Grundrechte reihenweise so stark eingeschränkt werden?

Der Ausbruch der Pandemie hat uns alle überrascht, deswegen habe ich mir zur Frage, was wäre, wenn es zu einer großen Pandemie kommt, kein Drehbuch im Kopf zurechtgelegt. Die Grundrechtseingriffe sind beachtliche, die Grundrechte, die durch das Virus bedroht sind, aber auch. Über 60.000 Menschen sind in Deutschland bislang an Covid-19 gestorben. Viele Infizierte haben über Monate hinweg nach der Erkrankung Schwierigkeiten ins normale Leben zurückzukehren. Das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit haben im Grundgesetz einen hohen Stellenwert.

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Gelten sie absolut?

Absolut gilt nur die Menschenwürde. Das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sind mit anderen Grundrechten abzuwägen. Aber sie haben ein großes Gewicht.

Sie haben es gesagt: Mehr als 60.000 Tote zählt die Statistik bislang. Der Staat hat auch eine Schutzpflicht für das Recht auf Leben. Müsste der Staat nicht noch mehr tun, um die Menschen vor dem Virus zu schützen – oder wie weit reicht diese Schutzpflicht?

Der Staat hat die Pflicht, sich schützend vor das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu stellen. Das hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder entschieden. Er ist dabei aber nicht auf einen einzigen Weg festgelegt. Wir erhalten am Bundesverfassungsgericht übrigens nicht nur Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die Einschränkungen durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wehren. Wir bekommen auch Verfassungsbeschwerden, die unter Berufung auf die staatliche Schutzpflicht weitergehende Maßnahmen einfordern.

Bis November beruhten die meisten Maßnahmen auf vage formulierten Generalklauseln des Infektionsschutzgesetzes. Hätte man das nicht früher auf ein festeres juristisches Fundament stellen müssen, angesichts der Grundrechtseingriffe?

Das Recht der Gefahrenabwehr greift schon immer auf unbestimmte Gesetzesbegriffe zurück. Man kann heute noch nicht abschließend definieren, welche Maßnahmen sich zur Bekämpfung einer Gefahr eignen, die erst in der Zukunft entsteht. Diese Gefahr muss der Staat trotzdem abwehren können. Dafür braucht er in einer frühen Phase der Gefahrenlage Befugnisse mit offenen Rechtsbegriffen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hat der Gesetzgeber der Exekutive genauere Handlungsanweisungen zu geben.

Wann ist dieser Zeitpunkt?

Über die Frage, welches der richtige Zeitpunkt ist, lässt sich unter Juristen streiten. Und über die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber den richtigen Zeitpunkt gewählt hat, wird sich das eine oder andere Gericht noch den Kopf zermartern. Dem kann und will ich nicht vorgreifen.

Bei den Einschränkungen treten immer die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin auf, die Parlamente in Bund und Ländern deutlich seltener. Vermissen Sie ein Selbstbewusstsein der Parlamente?

Es ist nicht meine Aufgabe, das zu bewerten. Die Parlamente haben ohne Zweifel über die Fragen des Umgangs mit der Pandemie intensiv diskutiert. Faktisch kommt der Ministerpräsidentenkonferenz bei der Bekämpfung der Pandemie eine große Bedeutung zu. Ein Großteil der Befugnisse liegt nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes bei den Ländern, zugleich haben die Menschen die Erwartung, dass kein föderaler Flickenteppich entsteht. Es bedarf mithin der Koordinierung zwischen Bund und Ländern. Diese ist praktisch nur auf Ebene der Regierungschefs und -chefinnen möglich. Die Vorstellung, dass die Mitglieder des Deutschen Bundestages die Maßnahmen mit den Mitgliedern der Landesparlamente koordinieren, ist nicht besonders lebensnah, weil es sich um einen Abstimmungsprozess zwischen deutlich über 2000 Persönlichkeiten handeln würde. Man benötigt daher aus ganz praktischen Gründen einen überschaubaren Steuerungskreis. Dies ändert nichts daran, dass die wesentlichen Entscheidungen der Beschlussfassung durch die Parlamente bedürfen.

Im September findet die Bundestagswahl statt, wohl auch unter Pandemiebedingungen. Viele sprechen sich daher verstärkt für die Briefwahl aus, die aber eigentlich als Ausnahme gedacht ist. Oder?

Die Briefwahl ist als Ausnahmefall gedacht, weil das Grundgesetz die freie und geheime Wahl vorschreibt. Die Integrität der Briefwahl ist nicht in gleicher Weise gewährleistet wie bei der Urnenwahl im Wahllokal. Aber es geht bei einer Wahl auch darum, dass möglichst viele Menschen an einer Wahl teilnehmen. Demokratie lebt von einer hohen Wahlbeteiligung. Auch Menschen, die sich Sorgen um ihr gesundheitliches Wohlergehen machen, die zu Risikogruppen zählen oder sich aus anderen Gründen am Betreten des Wahllokals gehindert sehen, soll die Abgabe ihrer Stimme ermöglicht werden. Diese widerstreitenden Aspekte hat der Gesetzgeber in einen Ausgleich zu bringen.

Das Grundrecht auf Datenschutz hat das Verfassungsgericht als Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ selbst entwickelt: Ist es wichtiger als das Recht auf körperliche Unversehrtheit, auch in Krisenzeiten?

Wenn Grundrechte miteinander kollidieren, möchte das Grundgesetz jedes Grundrecht zu einer möglichst weitreichenden Geltung bringen. Das bedeutet aber nicht, dass sich ein Grundrecht immer gegen ein anderes Grundrecht durchsetzen würde. In jedem Einzelfall muss beurteilt werden, wie ein angemessener Ausgleich möglich ist. Einzig die Menschenwürde ist keiner Abwägung zugänglich. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist mit anderen Grundrechten in einen Ausgleich zu bringen, sofern nicht sein Menschenwürde-Kern berührt ist. Das gilt auch im Verhältnis zum Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Dann wäre also in der Corona-App noch etwas mehr Luft, mehr Daten zu sammeln, um sie effektiver für den Gesundheitsschutz zu machen?

Nochmals und ohne Bezug zur App: Das Grundgesetz kennt keinen uneingeschränkten Vorrang des Datenschutzes vor dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Wenn einer geimpft ist und keine Gefahr mehr darstellte, müssen dem dann automatisch auch wieder alle Grundrechte zustehen?

Niemand verliert seine Grundrechte, auch nicht in einer Pandemie. Der Ausgleich der kollidierenden Grundrechte führt aber teilweise zu anderen Ergebnissen. Die Frage, welche Rechtsfolgen Impfungen auslösen, wird sicherlich Gegenstand vieler Gerichtsverfahren sein. Dabei könnte es auch eine Rolle spielen, ob Geimpfte nur selbst geschützt sind oder ob sie auch Dritte nicht mehr anstecken können.Wie finden Sie, dass diese Debatte über die Wiederherstellung von Grundrechten unter dem Stichwort „Privilegien“ geführt wird?Das Spannungsverhältnis zwischen kollidierenden Grundrechten ist in einer Pandemie anders aufzulösen als außerhalb einer Pandemie. Aber Grundrechte bleiben Rechte. Grundrechte sind keine Privilegien.Wie empfinden Sie es, dass in Corona-Zeiten derart inflationär von „Diktatur“ und „Ermächtigungsgesetzen“ die Rede ist?Analogien zum Nationalsozialismus sind infam und geschichtsvergessen. Wer die Gegenwart als „Diktatur“ bezeichnet, relativiert die Naziherrschaft und diffamiert die beste Republik unserer Geschichte. Manchmal fragt man sich, ob diejenigen, die „Diktatur“ rufen, dies auch täten, wenn wir eine Diktatur wären. Ich kann gut nachvollziehen, dass sich viele Menschen bedroht fühlen, weil sie Angst um sich und ihre Angehörigen haben, weil sie um ihre berufliche Existenz bangen. Aber mein dringender Appell bleibt, nicht von Diktatur zu sprechen, sondern zu erkennen, dass wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben, um die uns die meisten Menschen auf diesem Globus beneiden. „Corona-Diktatur“ ist eine absurde und bösartige Parole.Dennoch fühlen sich viele in der Pflicht, von ihrem „Recht auf Widerstand“ gegen die „Merkel-Diktatur“ Gebrauch zu machen. Das stehe schließlich in der Verfassung.Das Grundgesetz räumt ein Recht auf Widerstand dann ein, wenn versucht wird, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen und andere Abhilfe nicht möglich ist. Dass dies heute der Fall sein soll, lässt sich nicht ernstlich vertreten. In Deutschland und im Westen insgesamt wird versucht, mit rechtsstaatlichen Mitteln einer sehr großen Bedrohungslage entgegenzuwirken. Wenn die Exekutive oder die Legislative dabei Grenzen überschreiten, werden sie von der Judikative korrigiert. Man mag den gewählten Weg für falsch halten. Dies gibt aber kein Widerstandsrecht. Gewiss: Die Krise ist eine Bewährungsprobe für unser Land. Aber wir sehen, dass sich darin unser System im Kern bewährt und funktioniert.