- Was will Wladimir Putin im Ukraine-Konflikt, und welche Chancen bestehen, einen Militärschlag zu verhindern?
- Raimund Neuß fragte den Kölner Politikwissenschaftler Prof. Thomas Jäger.
Erst warnen die USA vor einem möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Einmarsch Russlands in die Ukraine, Russland will Rebellenrepubliken anerkennen, es stehen aber auch weitere Verhandlungen im Raum. Was ist da los?
In der deutschen Perspektive wird immer zwischen der Androhung von Gewalt und Diplomatie unterschieden. Als seien das Gegensätze. Aus russischer Sicht sind das zwei Seiten einer Medaille. Je glaubwürdiger die Androhung von Gewalt ist, desto besser ist die eigene diplomatische Position. Deshalb sieht Russland es keineswegs so, dass man deeskalieren müsse, um verhandeln zu können. Das hieße ja, eine starke Position aufzugeben, um zu verhandeln. Das werden sie nicht tun. Solange Präsident Putin nicht entschieden hat, dass Verhandeln gar keinen Sinn macht, wird die Situation so bleiben.
Aber die Bedingungen für eine militärische Lösung werden aus russischer Sicht doch nicht besser: Die Ukraine bekommt mehr Waffen, die Nato baut mehr Truppen in Polen und im Baltikum auf, das bevorstehende Frühjahrswetter mit viel Matsch ist ungünstig für Panzervorstöße …
Zur Person
Thomas Jäger (61) ist seit 1999 Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der nordrhein-westfälsihen Akademie der Wissenschaften und Autor Bücher, zum Beispiel: „Das Ende des amerikanischen Zeitalters – Deutschland und die neue Weltordnung“ (2019). (rn)
Richtig, das alles muss Putin einkalkulieren und auch die Moral seiner Truppe berücksichtigen: Wann wird seine Situation schlechter? Das wird er bedenken.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde deutlich, wie unrealistisch der ukrainische Wunsch nach einem Nato-Beitritt ist. Welche Rolle spielt das überhaupt in dem Konflikt?
Russland geht es um viel mehr. Die Ukraine hat dabei aber einen hohen Symbolwert und ist ein wichtiges Etappenziel. Russland will neben China und den USA die dritte Weltmacht sein. Das kann es auf sich alleine gestellt nicht. Die Wirtschaftskraft und die Bevölkerung sind zu gering. Deshalb verfolgt Präsident Putin schon lange die Idee eines „großen Europa“, eines Europa, das unter russischem Einfluss steht. Daher die russischen Forderungen: Im ersten Schritt geht es darum, die Erweiterung der Nato-Mitgliedschaft zu stoppen. Kein ehemaliger Sowjetstaat darf Nato-Mitglied werden, die Ukraine ebenso wenig wie Georgien. Diesem Ziel dient die Androhung militärischer Gewalt. Im zweiten Schritt geht es dann darum, eine Pufferzone zu organisieren, die von Finnland über die baltischen Staaten und Polen bis nach Rumänien und Bulgarien reicht, und alle ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten umfasst. In diesen Staaten sollen keine fremden Truppen stationiert sein, so dass sie unter russischen Einfluss gelangen. Und drittens geht es darum, die europäische Sicherheitslage von den USA zu trennen, weshalb die Nuklearwaffen, die die USA als Zeichen dieser Verbindung auf europäischem Boden lagern, abgezogen werden sollen. Das ist das Hauptziel. Was wir nicht wissen ist, welche Teilziele Präsident Putin jetzt für realistisch hält, und ob er einschätzt, dass seine Möglichkeiten, diese Ziele mit weniger Risiko zu erreichen, in Zukunft besser werden oder schlechter.
Im Augenblick läuft für Putin ja nicht alles nach Wunsch, die Nato rückt zusammen, Schweden und Finnland nähern sich dem Bündnis an.
In der Tat, das ist für Präsident Putin ein paradoxes Ergebnis. Der Druck auf die Ukraine hat zugenommen, die Möglichkeit, dass im Osten der Ukraine eine für Russland günstige Lösung gefunden wird, wächst. Die Balance der Macht hat sich hier schon zugunsten Russlands verschoben. Auch die Einigkeit des Westens gegen Russland muss nicht von Dauer sein. Es gab viele disruptive Kräfte, denken Sie nur an Präsident Trump, der die Nato für obsolet erklärt hat. Das hat sich jetzt umgedreht, aber ist das von Bestand? In der russischen Strategie spielt diese Überlegung eine wichtige Rolle. Kommt Präsident Putin zu dem Schluss, dass es nur ein kurzfristiges Zusammenraufen ist, dass die Solidarität wieder zerfällt, dann kann er auf den Zeitverlauf setzen. Wenn er es aber so sieht, dass die Bündnissolidarität von Dauer ist, könnte er dazu neigen, durch einen militärischen Schlag die Lage noch einmal grundsätzlich durcheinanderzubringen.
Was könnte Nato Putin anbieten, um zumindest kurzfristig die Gefahr einer militärischen Eskalation zu mindern?
Es gibt drei Gebiete, über die verhandelt wird, und auf allen sind Kompromisse möglich. Erstens der Minsk-Prozess um die politische Ordnung der Donbass-Region. Hier hat sich die Lage zugunsten Russlands verändert, und hier haben der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz ja auch neue Gesetze in Aussicht gestellt. Der einzige Staat, der das nicht will, ist die Ukraine. Und die hat da einen schweren Stand. Das zweite Gebiet betrifft eine Begrenzung der Mittelstreckenraketen, die Frage, wie nah an Grenzen Offensivsysteme stationiert werden dürfen, Transparenz bei der Rüstungskontrolle und bei Militärübungen. So etwas kann man umsetzen, so kompliziert das auch ist. Und das dritte Gebiet ist die sogenannte Osterweiterung der Nato. Die Ukraine will Mitglied werden, sie hat diese Frage am Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz nochmals gestellt…
… aber sie kann doch gar nicht Mitglied werden, die Nato nimmt keine Krisenregionen auf, oder?
Richtig, und Russland weiß genau, dass das nicht zur Debatte steht und dass die Vorstellung, ein Nato-Beitritt wäre der erste Schritt zur Rückeroberung der Krim, ein Konstrukt ist. Umgekehrt wird die Nato keine öffentliche Zusage machen können, die Ukraine nicht zu aufzunehmen – das würde gegen ihre Grundprinzipien verstoßen. Aber es bleibt dabei, dass außer der Ukraine selbst niemand ein Interesse an einer solchen Mitgliedschaft hat, Russland nicht und die Nato nicht. Also wäre eine Absprache möglich, die man nicht oder nicht sofort öffentlich macht – wenn sich der russische Präsident denn darauf einlässt. Alles was darüber hinausgeht, die Einrichtung von Pufferstaaten etwa, ist für die Nato nicht verhandelbar.