Deutschland erlebt eine neue Flüchtlingskrise. Ein besonderer Fokus liegt auf der Grenze zu Polen, wo die Bundespolizei täglich Dutzende Menschen aufgreift. Wie wirkt sich das vor Ort aus? Beobachtungen aus der Grenzregion.
Reportage aus SacroWie die Menschen an der polnischen Grenze die Flüchtlingskrise erleben
Es ist einer der letzten heißen Sommertage des Jahres. Eine Katze sitzt am Straßenrand und schaut den Autos hinterher. Die Migrationskrise scheint weit weg. Und doch ist das kleine Örtchen Sacro einer der Schauplätze. Das Dorf liegt an der Grenze zu Polen. Immer mehr Flüchtlinge erreichen Deutschland. Und für viele führt der Weg durch Sacro im Südosten von Brandenburg.
Flüchtlinge sind um die Mittagszeit keine zu sehen. Dafür sind aber viele Geschichten über sie zu hören. Beispielsweise von einer älteren Frau. Sie kommt gerade aus der Dorfkirche. Auf dem Torbogen steht etwas windschief ein kleines Kreuz.
Flüchtlinge? „Ja, ja“, setzt sie an, „es kommt schon vor, dass hier Gruppen oder einzelne Personen durch den Ort laufen.“ Manchmal seien das auch Familien mit kleinen Kindern. Wo die herkommen? „Na, von da drüben“, sagt sie und zeigt hinter der Kirche in Richtung Neiße. Der Fluss trennt Deutschland und Polen voneinander. „Da drüben“ ist Polen. Wo die Migranten hinwollen? „Keine Ahnung, manchmal macht es aber den Eindruck, als wollen sie gefunden werden. Sie sitzen an Bushaltestellen und warten.“ In Sacro wohnen 300 Menschen. Jeder kennt jeden. Fremde fallen auf.
Abends würden sie jetzt die Kirche abschließen, damit das Gotteshaus nicht zum Schlafplatz umfunktioniert werde, sagt die Frau im Schatten des Kirchturms. Im Dorf erzählt man sich von Bauern, die morgens Flüchtlinge in ihren Scheunen entdeckt haben. Im Nachbarort sollen welche Wasser aus einem öffentlich zugänglichen Wasserhahn gezapft haben.
Nachts nicht aus dem Haus
Einmal, sagt die Frau, sei ein Mann am Straßenrand gefunden worden. Der habe einfach nicht mehr weitergekonnt, so erschöpft sei er gewesen. Sie schwingt sich auf ihr Rad. Nachts, sagt sie noch, traue sie sich nicht mehr raus. Man wisse ja nie, wer einem da begegne. Dann fährt sie davon.
Egal, wen man an diesem Tag fragt, jeder kann über Erlebnisse mit oder Sichtungen von mutmaßlichen Flüchtlingen berichten. Keiner äußert sich fremdenfeindlich, aber alle sind besorgt darüber, was in ihrem Ort vor sich geht.
Heute sind es vor allem Polizeibeamte, die in und um Sacro ihre Arbeit machen. Auch wenn sie manchmal gar nicht als solche zu erkennen sind. Zwei Männer reiten im gemütlichen Tempo an einem Maisfeld entlang. Manche Flüchtlinge, berichten die Anwohner, schlagen sich querfeldein durch. Um sie zu finden, braucht es Hubschrauber oder eben Pferde. Streifenwagen wären hier nutzlos.
Politisch heikle Vorgänge
Bei einem der Reiter guckt der Holster unter dem T-Shirt hervor. Etwas widerwillig räumt er ein, dass er von der Bundespolizei ist. Mehr dürfe er nicht sagen. Was hier im Grenzgebiet los ist, ist in vielfacher Hinsicht politisch heikel. Die Bundespolizei ist Bundesinnenministerin Nancy Faeser unterstellt. Die SPD-Politikerin will Ministerpräsidentin in Hessen werden. Und die zunehmende illegale Migration ist da keine Wahlwerbung.
Im deutsch-polnischen Grenzgebiet hat die Bundespolizei im ersten Halbjahr 12331 Migranten aufgegriffen, die illegal nach Deutschland gelangt sind. Im Vorjahreszeitraum waren es lediglich 4600. An keiner anderen Grenze ist die Zahl so hoch. Die Fluchtbewegung hat sich deutlich vom Süden in den Osten verschoben. Wie viele Menschen tatsächlich hier illegal einwandern, weiß niemand so genau.
Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) formuliert es so: „Keine Schleuserroute wird momentan so stark genutzt wie die über die deutsch-polnische Grenze. Mehr als 15.000 Menschen sind seit Januar auf diesem Weg illegal eingereist. Das ist eine komplette Kleinstadt, und es werden jeden Tag mehr.“
Deutschland hat die Flüchtlingskrise nicht im Griff
Stübgen fordert feste Grenzkontrollen, ähnlich wie an der Grenze zu Österreich. Genau die will die Bundesinnenministerin aber nicht einrichten – „ohne triftigen Grund“, sagt Stübgen und teilt aus: „Nancy Faeser überlässt es skrupellosen Schleuserbanden, wer nach Deutschland kommen kann.“
In und um Sacro wird deutlich, dass Deutschland die Situation nicht im Griff hat. Wer ins Land möchte, findet einen Weg, auch wenn er eigentlich nicht reindarf. Schleierfahndung hin oder her. Denn die deutsch-polnische Grenze lässt sich ohne Zäune gar nicht komplett abriegeln.
Die Neiße führt derzeit so wenig Wasser, dass sie zu Fuß überquert werden kann. Es reicht, von Stein zu Stein oder Sandbank zu Sandbank zu hüpfen. An manchen Stellen ist das Schilf entlang der Ufer platt gedrückt. Trampelpfade führen über die Überflutungswiesen den Deich hinauf. Stimmen die Schilderungen der Einwohner, haben sich hier Migranten ihren Weg nach Deutschland gebahnt.
Wer nicht zu Fuß flieht, nutzt das Auto: Sacro mit der schmucken Kirche im Ortskern gehört verwaltungstechnisch zur Stadt Forst. Die Bundesstraße 157 trennt Dorf und Stadt voneinander. Die Bundesstraße führt über den Grenzfluss Neiße und wird auf polnischer Seite zur Woiwodschaftsstraße 289.
Immer mal wieder bauen sich hier Bundespolizisten auf. Auch an diesem Septembertag. Die meisten Autos lassen sie passieren. Einen Transporter mit Berliner Kennzeichen winken sie raus. Der Fahrer zeigt den Beamten die Ladefläche: alles leer.
In den vergangenen Wochen haben die Grenzschutzbehörden immer wieder Fotos von aufgeflogenen Schleusungen veröffentlicht. Mal stehen Menschen dicht gedrängt auf der Ladefläche von Transportern, mal sitzen Männer quasi übereinander gestapelt in einem Pkw.
Das Ziel der meisten Flüchtlinge ist Deutschland, dafür bezahlen sie die Schleuser. Hauptsache irgendwie über die Grenze kommen. Was dann passiert, formulierte Andreas Roßkopf von der Gewerkschaft der Polizei kürzlich so: „Weit über 90 Prozent der unerlaubt eingereisten Migranten sagen ,Asyl‘. Und das heißt für die Polizei dann: Fingerabdrücke nehmen, einige Fragen zur Herkunft stellen und weiterleiten an die Bundesbehörde im Landesinneren.“
So läuft das auch in Forst. Wer aufgegriffen wird, kommt nach Eisenhüttenstadt – zur Erstaufnahmeeinrichtung in Brandenburg. 58 Flüchtlinge seien das derzeit pro Tag, sagt Innenminister Stübgen. Im Juni seien es im Schnitt noch täglich 22 Menschen gewesen. Von dort werden die Asylbewerber weiter auf Deutschland verteilt. Ob sie eine realistische Chance auf Asyl haben, ist zunächst unwichtig.
Lage schlimmer als 2015
Die Beamten vor Ort in Sacro berichten, die Situation sei mittlerweile schlimmer als im Jahr 2015. Zumindest im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Aber natürlich: Offiziell wollen sie das nicht sagen. Die offizielle Stelle, die Bundespolizeidirektion in Potsdam, teilt mit, man rechnet „mit einem weiteren Anstieg der illegalen Migration nach Deutschland im Laufe der nächsten Wochen“.
Brandenburgs Innenminister Stübgen sagt: Deutschland drohe ein Integrationskollaps. Er wolle nicht länger darauf warten, dass die Bundesinnenministerin ihrer Verantwortung gerecht werde. Deswegen lässt er jetzt seine eigenen Polizeibeamten gezielter im Grenzgebiet kontrollieren. Nicht direkt an der Grenze, denn das ist Sache des Bundes. Aber im Hinterland. „Die Bürger fragen sich doch zu Recht, was der Rechtsstaat unternimmt, wenn täglich Menschen von Schleusern illegal über die Grenze geschafft und dann ausgesetzt werden.“
Zum Beispiel in Sacro. Erst kürzlich schaffte es das Dorf wieder in die Polizeiberichte: Die Bundespolizei fasste 27 illegal eingereiste Syrer in der Nähe der Ortschaft. 27 von insgesamt 84 Aufgriffen an einem Tag im südlichen Brandenburg.
Arbeitsvisa-Affäre bedroht die polnische Regierung
„Eine Kaskade an Fake-News“ seien die Berichte über eine angebliche Visa- Affäre, erklärte Außenminister Zbigniew Rau selbstsicher am Montag gegenüber den Medien. Doch tatsächlich ist Polens Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) aktuell mit einem Skandal belastet, der sie die Wahl am 15. Oktober kosten könnte: Über zweieinhalb Jahre soll das Außenministerium ein Geschäft mit Arbeitsvisa für Migranten außerhalb der EU betrieben haben.
Bis zu 5000 Dollar pro Kopf seien gezahlt worden, so Recherchen der Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Michal Szerba und Dariusz Jonski, zwei Oppositionspolitiker des Bündnisses Bürgerkoalition (KO), die Einsichten in Unterlagen haben, behaupten, dass Rau über die Praktiken informiert gewesen sei. Ein entsprechendes Dokument publizierten sie im Netz. Während der Außenminister nur etwa 200 illegale Vergaben einräumt, verweisen die beiden KO-Politiker auf 350.000 solcher Fälle.
Hauptakteur könnte der ehemalige Vize-Außenminister Piotr Wawrzyk sein, den die Regierung Ende August ohne Angaben von Gründen feuerte. Er soll sich im Krankenhaus befinden, nach inoffiziellen Quellen soll der 55-jährige einen Suizidversuch unternommen haben. Unklar bleibt, wohin genau die Gelder geflossen sind und wer in der Regierung davon wusste. „Das ist die größte Affäre Polens im 21. Jahrhundert“ so Oppositionschef Donald Tusk.
Besonders prekär daran ist, dass die nationalkonservative Regierung unter Marteusz Morawiecki sich im Wahlkampf wie in den Jahren zuvor als Bollwerk gegen illegale Migration verkauft. Die PiS lehnt es sowohl ab, Asylsuchende aus den überlasteten Ländern Italien und Griechenland aufzunehmen, wie auch als Ersatz eine Gebühr an diese EU-Mitglieder zu entrichten.
Im Herbst 2021 errichtete Polen einen über 400 Kilometer langen Zaun an seiner Ostgrenze zu Belarus, der Migranten aus Nahost und Afrika hindern sollte, von dort aus ins Land zu kommen. Medien zeigen nun Aufnahmen von langen Wartereihen junger Männer vor der polnischen Botschaft in Nigeria.
Das Regierungslager versucht bislang, den Skandal herunterzuspielen und mit erhöhter Aggression die Opposition anzugreifen. Der Staatsfunk vermittelt bereits, dass die Opposition aus Polen ein zweites Lampedusa machen wolle. Doch der Skandal hat durchaus europäische Tragweite: Sollten sich die hohen Zahlen verkaufter Visa bestätigen, hätte das polnische Außenministerium die EU-Außengrenze im Osten aus Profitinteresse löchrig gemacht. (jma)