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Pentagon LeaksPeinliche Datenpanne, manipulierte Gefallenenzahlen und eine Kalkulation zur ukrainischen Offensive

Lesezeit 6 Minuten
Das Pentagon, Hauptsitz des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums. +++ dpa-Bildfunk +++

Geheimdaten ausgedruckt und abfotografiert: Im Pentagon hat es ein unglaubliches Datenloch gegeben.

An die 100 Ablichtungen, die angeblich US-Geheimdienstberichte zeigen, sind an die Öffentlichkeit gelangt – mit Daten unter anderem zur russischen Invasion in der Ukraine. Was ist davon authentisch? Und was für Folgen hat das Datenloch?

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin wird seinem Präsident Joe Biden einiges zu erklären haben. Und US-Geheimdienstler müssen sich unangenehmen Gesprächen mit ausländischen Partnern stellen. Mitten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verzeichnen die USA das wohl größte und vor allem: peinlichste Datenloch seit der Affäre um Ausspähaktionen des US-Geheimdienstes NSA von 2013.

Was enthalten die „Pentagon Leaks“?

Am 5. April veröffentlichte der prorussische Telegram-Kanal „Donbass Devushka“ vier Fotos angeblicher US-Geheimdienstunterlagen, die für Führungskräfte des US-Verteidigungsministeriums erstellt worden sein sollen. Es handelte sich um Karten und Übersichten über den Frontverlauf in der Ukraine, Truppenstärken und westliche Unterstützungsleistungen. Am Gründonnerstag, dem 6. April, wies die „New York Times“ darauf hin. Die Fotos seien wohl teilweise manipuliert, ihnen lägen aber nach Einschätzung von US-Beamten grundsätzlich authentische Dokumente zugrunde. Dann wurden es immer mehr.

Insgesamt sind Ablichtungen von rund 50 Dokumenten bekannt. Sie betreffen nicht nur die Ukraine, sondern auch Nordkorea, China und Iran – und verbündete Länder wie Südkorea und Israel. So soll David Barnea, der Chef des israelischen Geheimdienst Mossad, seine Mitarbeiter zum Demonstrieren gegen die nationalistisch-religiösen Regierung ermuntert haben. Ausspähen unter Freunden gehe gar nicht, hatte Kanzlerin Angela Merkel 2013 in der NSA-Affäre gesagt. Doch, geht noch. Auch gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den die USA angeblich abhörten.

Was die Papiere von den Wikileaks-Dokumenten oder den von Edward Snowden entwendeten NSA-Datensätzen unterscheidet: Es handelt sich Briefings, um Analysen für Regierungsvertreter. Also um Arbeitsergebnisse unter anderem der CIA und der NSA, nicht um die zu ihrer Erstellung benutzten Quellen. Anders als in der „Wikileaks“-Affäre von 2010 gibt es keine direkten Hinweise auf Informanten. Aber Russland könnte aus Details auf ihre Quelle schließen. Immerhin sind US-Geheimdienste laut den Dokumenten so tief in die russische Militärführung eingedrungen, dass sie die Ukrainer vorab vor Angriffen warnen können.

Seite wann sind die Fotos im Umlauf?

Ebenso unglaublich wie die Veröffentlichung selbst mutet der Zeitablauf an. Die abfotografierten Dokumente stammen von Ende Februar und Anfang März. Und sie gerieten offenbar auch sofort in Umlauf. Nach Angaben des Investigativportals „Bellingcat“ wurden Ablichtungen schon am 1. und 2. März publik, also kurz nach Entstehung. Und zwar im Chat-Dienst Discord. Erst unter Anhängern des Youtubers „Wow Mao“, dann am 4. April bei Fans des Computerspiels „Minecraft“. Möglicherweise, so Bellingcat, gab es noch eine etwas frühere Veröffentlichung, die aber gelöscht wurde.

Die Bilder zeigen Papierdokumente. Das lässt tief blicken: Anstatt so sensible Berichte in einem gesicherten Datenraum zu präsentieren, wurden sie ausgedruckt, und ein Leser hat es offenbar geschafft, ein Mobilgerät oder eine Digitalkamera mitzubringen und zu benutzen.

Sind die veröffentlichten Daten authentisch?

Nicht unbedingt. Schon die Veröffentlichung im „Minecraft“-Kanal weist eine unverkennbar per Bildbearbeitungsprogramm gemachte Manipulation auf: Der Ukraine werden bis zu 71 500 Kriegstote zugeschrieben, der russischen Seite nur 17 500 – da wurden also sogar die gleichen Ziffern verwendet. Inzwischen ist eine zweite Version bekannt, die plausibler ist und möglicherweise das Original wiedergibt: Hier soll Russland 223 000 Soldaten verloren haben, davon bis zu 43 000 Gefallene. Das harmoniert mit von der Nato öffentlich geteilten Schätzungen. Auf ukrainischer Seite wären es danach bis zu 17 500 Gefallene, die Gesamtzahl der ukrainischen Verluste könnte bis zu 131 000 betragen.

Stimmen Aussagen über angeblich in der Ukraine tätige westliche Soldaten? Gehen der Ukraine wirklich die S300-Luftabwehrraketen aus? Laut „Washington Post“ halten US-Offizielle viele Angaben für authentisch. Und: Auch wo Daten verändert worden sein mögen, hatte jemand Zugriff aufs Original.

Das Beispiel mit den Gefallenen zeigt: Vielfach bringen die Pentagon-Briefings, soweit die Daten denn echt sind, keine komplett neuen Informationen. Auch Angaben über Truppenstärken sind nicht himmelweit von dem entfernt, was zuvor bekannt war. Aber die fotografierten Berichte geben einen Hinweis darauf, wie detailliert die Erkenntnisse sind, die sich hinter den eher pauschalen öffentlichen Aussagen verbergen.

Was bewirkt die Veröffentlichung?

Vor allem: Vertrauensverlust und Sand im Getriebe westlicher Sicherheitsdienste. Die USA und ihre Verbündeten, meint der australische Militäranalyst und Ex-General Mick Ryan, müssten viel Arbeitskraft aufwenden, um das Datenloch zu finden und zu schließen. Und Verbündete würden sich künftig genauer überlegen, welche Informationen sie mit den USA teilen. Das gilt für die Ukraine, das gilt für die Partner der Geheimdienstkooperation „Five Eyes“, die die USA mit Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland betreiben. Anonyme Vertreter von zwei „Five Eyes“-Staaten haben sich gegenüber dem US-Sender CNN indigniert geäußert. Man könne nicht warten, bis die USA ein Schadensbild vorlegten, sagte einer, und ein anderer: „Wir untersuchen die Dokumente darauf, ob von uns gesammelte Daten drin sind.“

Was heißt das für die ukrainische Offensive?

Die Ukraine macht kein Geheimnis daraus, dass sie im späten Frühjahr eine Offensive starten will. Aber „nicht mehr als drei bis fünf Personen auf der Welt“ würden die Pläne kennen, hat der ukrainische Sicherheitsberater Oleksij Danilow vor ein paar Tagen gesagt. Dabei ist es trotz der Pentagon Leaks geblieben. Die Aufnahmen, ob echt oder manipuliert, zeigen keine Angriffspläne, sondern Lagebilder.

Sie sind für die Ukraine nicht ungünstig. Der Krieg hat die russischen Truppen wohl stärker geschwächt als die ukrainischen. Auffällig: Nach der möglicherweise originalen Version der Verluststatistik kommen auf einen gefallenen russischen Soldaten vier Verwunde, auf ukrainischer Seite sind es sechs. Die Ukrainer verfügen offenbar über ein überlegenes Sanitätswesen und kümmern sich gewissenhaft um Verletzte.

Zwölf frische, modern ausgestattete Brigaden, also bis zu 60 000 Soldaten, sollen Ende April für die ukrainische Offensive bereit stehen – das erscheint plausibel. Die Frontlänge wird auf 971 Kilometer taxiert. Bisher wurden meist 1300 Kilometer genannt. Die Differenz mag darin liegen, wie man Frontbögen vermisst. Auf dieser Länge soll Russland zum Zeitpunkt des Datenlochs Anfang März 139 600 Soldaten eingesetzt haben, davon 22 000 Wagner-Söldner.

„Die Russen haben nach wie vor das Problem der langen Linie“, hatte der Kieler Sicherheitsforscher Joachim Krause der Rundschau im September 2022 gesagt. Dabei ist es geblieben. Die Ukrainer können dagegen aus dem Zentrum ihres Landes heraus operieren. Von der Industriemetropole Dnipro aus sind es nur 100 Kilometer bis zur Saporischschja-Front, 260 Kilometer nach Bachmut, 240 Kilometer nach Wuhledar. Mit zwölf Divisionen könnte die Ukraine rasch lokale Überlegenheit herstellen.

Russische Militärblogger haben die Pentagon Leaks denn auch nicht durchweg erfreut aufgenommen. Mehrere halten sie für einen ukrainischen Versuch der Desinformation. Die Angst vor Kiews Offensive ist groß – da hilft das Manipulieren von Verlustraten nichts.