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Stoff für SpekulationenWer steckt hinter dem Anschlag auf die Pipelines?

Lesezeit 4 Minuten
Im September wurden die Pipelines Nord Stream 1 und 2 angegriffen.

Im September wurden die Pipelines Nord Stream 1 und 2 angegriffen.

Der Anschlag auf die Ostsee-Pipelines im September ist weiterhin ungeklärt. Aktuelle Recherchen weisen nun auf eine pro-ukrainische Tätergruppe hin. Das wäre eine schwere Belastung für die Kriegsallianz gegen Russland.

Ein Terrorakt in dänischen und schwedischen Gewässern. Ein Anschlag auf kritische Infrastruktur der EU. Auf zwei Pipelines, die halb Europa mit Gas versorgen können. Noch dazu auf ein Firmenkonsortium, an dem deutsche, französische, niederländische und österreichische Unternehmen beteiligt sind. Schon diese wenigen Fakten zeigen, dass sich die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines im September 2022 keineswegs allein gegen den russischen Mehrheitseigner Gazprom richtete. Die Sabotage hatte, ob gewollt oder ungewollt, auch Deutschland und die EU zum Ziel. Und genau das macht die jüngsten Enthüllungen zu möglichen Hintergründen des Anschlags so brisant.

Denn wenn stimmt, worauf Recherchen amerikanischer und deutscher Medien hindeuten, dann führt die heißeste Spur in die Ukraine. In jenes Land, das in seinem Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg auf die Hilfe des Westens angewiesen ist und der EU beitreten will. Wobei die Betonung auf dem „Wenn stimmt …“ liegen muss. Denn vieles in dem Fall ist weiterhin unklar oder zumindest spekulativ. Zumal sich die Berichte der „New York Times“, der „Zeit“ und der ARD auf anonyme Ermittlerkreise stützen. Weder der US-Geheimdienst CIA noch die Bundesanwaltschaft oder schwedische und dänische Behörden wollten die Berichte kommentieren.

Identität der Beteiligten ist ungeklärt

Den Recherchen zufolge hat eine sechsköpfige Kommandogruppe Anfang September in Rostock eine gecharterte Jacht bestiegen, um nahe der dänischen Insel Bornholm Sprengstoff an den Nord-Stream-Pipelines anzubringen. Die Fernzündung am 26. September zerstörte drei der vier Gasröhren. Die wichtigsten Indizien: Mieter der Jacht war eine Firma in Polen, die zwei Ukrainern gehört. Die Route des Schiffes führte nachweislich in die Tatortregion. Zudem fanden die Ermittler an Bord Spuren von Sprengstoff. Bei den Personen auf der Jacht soll es sich um zwei Taucher, zwei technische Assistenten, den Kapitän und eine Ärztin gehandelt haben.

Operation unter falscher Flagge, mit bewusst gelegten Spuren? Doch spätestens an dieser Stelle beginnen die Spekulationen. So ist die Identität der Beteiligten nicht geklärt. Sie sollen professionell gefälschte Ausweise benutzt haben. Westliche Geheimdienste sprechen den Berichten zufolge von einer „pro-ukrainischen Gruppe“, aber auch eine Operation unter falscher Flagge sei nicht auszuschließen. Bei solchen „False flag“-Aktionen hinterlassen Täter bewusst Spuren, die in die Irre führen. Im „Fall Nord Stream“ kämen dafür vor allem russische Geheimdienste infrage. Allerdings gibt es darauf offenbar keine Hinweise.

Die Ukraine hat nichts mit dem Vorfall in der Ostsee zu tun und auch keine Informationen über pro-ukrainische Sabotagegruppen.
Michailo Podoljak, enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskyj

Auch die übrigen veröffentlichten Informationen werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Vor allem: Woher hatte die mutmaßliche Tätergruppe den Sprengstoff? Früheren Berichten zufolge gehen die Ermittler davon aus, dass Material in militärischer Qualität und mit einer Explosivkraft von 500 Kilogramm TNT zum Einsatz kam. Um eine solche Menge Sprengstoff anzubringen, bräuchten die Taucher eine Spezialausbildung. Wäre eine nicht-staatliche Kommandogruppe dazu in der Lage? Und wer sonst könnte den Auftrag erteilt haben? Diese Fragen verweisen auf die wohl größte Irritation, die von den aktuellen Recherchen ausgeht.

Fachleute hatten nach den Anschlägen früh darauf verwiesen, dass angesichts der Komplexität der Tat nur ein staatlicher Akteur als Verursacher der Explosionen infrage komme. Die nun durchgestochenen Ermittlungsergebnisse weisen jedoch auf eine fast schon amateurhafte Aktion hin. So wurde die benutzte Jacht nach der Mission offenbar nicht ausreichend gereinigt, um alle Sprengstoffspuren zu entfernen. Die Regierung in Kiew schließt eine Beteiligung eigener staatlicher Stellen aus. Michailo Podoljak, enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, schrieb bei Twitter: „Die Ukraine hat nichts mit dem Vorfall in der Ostsee zu tun und auch keine Informationen über pro-ukrainische Sabotagegruppen.“

Russische Führung geht von Staatsterror aus

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius wollte gestern ebenfalls nichts von einer heißen Spur nach Kiew wissen: „Wir müssen jetzt mal abwarten, was sich davon wirklich bestätigt“, sagte er am Rande eines Nato-Treffens in Stockholm. Pistorius betonte im Deutschlandfunk-Interview, dass die Wahrscheinlichkeit einer „False-flag-Aktion“ und einer pro-ukrainischen Täterschaft „gleichermaßen hoch“ sei. Dennoch werden sich die westlichen Verbündeten der Ukraine auf alle Szenarien einstellen müssen. Denn sollte sich die aktuelle Spur als belastbar erweisen, wäre das eine schwere Hypothek für die Kriegsallianz gegen Russland. Das gilt insbesondere dann, wenn die verdächtige Kommandogruppe doch Kontakte zum ukrainischen Geheimdienst SBU oder zum Militär gehabt haben sollte. Mit einer solchen Verbindung ließe sich zumindest die Frage nach der Herkunft des Sprengstoffs und dem Training der Taucher beantworten. Indizien oder gar Beweise dafür gibt es allerdings nicht.

Die „New York Times“ verweist auf eine zeitliche Nähe der Nord-Stream-Sprengung zu den ebenfalls symbolträchtigen Anschlägen auf die Tochter des Kreml-nahen Ideologen Alexander Dugin im August 2022 und auf die Krim-Brücke Anfang Oktober. Vor allem im letzteren Fall kam eine große Menge Sprengstoff zum Einsatz. Auch damals bestritten offizielle ukrainische Stellen jede Beteiligung. Russland hingegen beschuldigte den SBU. In Sachen Nord Stream zielt Moskau dagegen in eine andere Richtung. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte die jüngsten Berichte ein „koordiniertes Ablenkungsmanöver“. Die russische Führung geht von „Staatsterror“ aus, verübt von britischen oder amerikanischen Einsatzkräften.