Die ukrainische Führung macht wenige Angaben zum Verlauf ihrer Offensive. Dagegen finden sich Meldungen über vermeintliche ukrainische Erfolge in russischen Kanälen. Warum?
Moskauer PropagandachaosHat Prigoschin russische Truppen in der Ukraine verraten?
Wenn das stimmt, was Rybar, WarGonzo und andere russische Militärblogger schreiben, dann ist der aus Tschetschenien stammende russische Generalmajor Suchrab Achmedow ein Fall fürs Militärgericht. Am Mittwochmorgen, so die Blogger, ließ Achmedow seine Soldaten bei Kreminna antreten. Angeblich, um eine motivierende Ansprache ihres Kommandeurs anzuhören. Zwei Stunden standen die Soldaten demnach da. Achmedow erschien nicht. „Wie Ihr vielleicht schon erraten habt: Das einzige, was kam, waren Himars und Artillerie“, schreibt ein russischer Telegram-Kanal mit dem absonderlichen Namen Warhistoryalco. Hundert russische Soldaten sollen getötet worden sein, weitere hundert verletzt.
Wenn das, wie gesagt, stimmt oder auch nur halbwegs stimmt, war es ein großer Erfolg der ukrainischen Armee, und das an einer strategisch wichtigen Stelle: Kreminna ist seit der ukrainischen Nordoffensive im Herbst 2022 umkämpft. Es ist ein Provinznest, aber wenn der Ukraine hier ein Frontdurchbruch gelingt, fällt eine wichtige russische Nachschublinie weg, und das Tor zum besetzten Bezirk Luhansk steht weit offen. Umso mehr staunt man darüber, dass der Vorfall nach der Übersicht des Institute for the Study of War unabhängig nicht zu belegen ist. Ein Himars-Einsatz hier wurde nicht beobachtet – nun gut, Haubitzen könnten ausgereicht haben. Aber eigentlich verbreitet die Ukraine auch bei wesentlich kleineren Erfolgen gern Videos, die sich mit etwas Mühe auch örtlich und zeitlich einordnen lassen. Aber Kreminna? Schweigen, ausgerechnet hier. [Nachtrag, 16. Juni: In der Nacht zum 16. Juni veröffentlichte das Portal DeepStateUA ein Video, das möglicherweise den Angriff zeigt. Am Nachmittag bestätigte auch ein der ukrainischer Armee nahestehender Kanal, „Operator Starsky“, den Schlag gegen die Besatzer bei Kreminna.]
Ebenso still verhält sich die ukrainische Führung zum Tod von Sergej Gorjatschew, dem Stabschef der 35. russischen Armee im Bezirk Saporischschja. Dabei hat der Chef der regionalen russischen Besatzungsverwaltung einen Nachruf auf den General veröffentlicht. Vermutlich kamen am Montag mit ihm weitere hohe Offiziere ums Leben. [Nachtrag: Auch hier dann am 16. Juni die Bestätigung.]
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Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar berichtet regelmäßig übers ukrainische Vorrücken, ein paar hundert Meter bei Bachmut etwa, ohne diese Angaben genau zu lokalisieren. 103 Quadratkilometer Land haben die Ukrainer nach eigenen Angaben vom Donnerstag zurückgewonnen. Einige Tage zuvor meinte der russische Söldnerführer Jewgeni Prigoschin sogar, die Ukraine hätten mehr zurückerobert, als sie mitteilten. Auch das ist bezeichnend: Die aus ukrainischer Sicht günstigsten Darstellungen werden von russischen Quellen verbreitet.
Für die Ukraine ist das Vernebeln Teil der Strategie. Sie greift, so die Einschätzung des britischen Analysten Jack Watling, an vielen Stellen zugleich an, um die russischen Besatzer in Ungewissheit darüber zu lassen, wo tatsächlich größere Durchbruchversuche anstehen. Die sind bis jetzt nicht erfolgt, die von Russland errichteten 2400 Kilometer an Gräben, Panzersperren, Minenfeldern halten, und Watling stellt nüchtern fest: Der Erfolg eines solchen Angriffs lässt sich nur binär ausdrücken, er klappt oder er klappt nicht. Ein bisschen Durchbruch geht nicht. Umso wichtiger ist der Überraschungseffekt.
So schlüssig da die ukrainische Kommunikationsstrategie ist, so auffällig ist das Durcheinander auf russischer Seite. Prigoschin zählt lustvoll die Fehleinschätzungen des russischen Verteidigungsministeriums auf. „Wir haben die Ukraine zu einer Nation gemacht, die die ganze Welt kennt“, sagt Prigoschin in einem seiner jüngsten Videos: „Die ukrainische Armee ist eine der stärksten der Welt“. Der russische Oberstleutnant Roman Venevitin wiederum wirft Prigoschin vor, er sei es gewesen, der den Ukrainern den Standort der bei Kreminna angegriffenen Einheiten der 20. Russischen Armee verraten habe. Diesen Venevitin hatten Wagner-Söldner vor einigen Tagen entführt, offensichtlich verprügelt und zu dem Eingeständnis gezwungen, er habe bei Bachmut auf russische Truppen schießen lassen. Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow wiederum verbreitet Spekulationen über seinen Cousin und militärischen Weggefährten Adam Delimchanow, der bei Kreminna vermisst sein soll – und dann doch wieder angeblich lebt.
Ein Kommunikationschaos, ähnlich konfus wie der Auftritt von Präsident Wladmir Putin vor russischen Militärbloggern am Dienstag. Die Ziele der russischen „militärischen Spezialoperation“? „Nein, sie ändern sich je nach aktueller Lage, aber im Ganzen ändern wir natürlich nichts, sie haben für uns fundamentalen Charakter.“ Eine weitere Mobilmachung? „Je nachdem, welche Ziele wir uns stellen, müssen wir die Fragen der Mobilmachung lösen. Heute ist das nicht nötig.“ Alles klar?
Am vergangenen Wochenende hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu ankündigt, alle auf Moskauer Seite kämpfenden Privatarmeen unter seinen Befehl stellen zu wollen. Dazu müssen sie bis zum 1. Juli Verträge mit dem Verteidigungsministerium schließen. Kadyrow macht mit und hat bereits einen Vertrag für seine „Achmat“-Spezialeinheit geschlossen. Prigoschin weigert sich. Ein offener Machtkampf. Schon Anfang Juni stellte er die Hinrichtung von Schoigu und Generalstabschef Valeri Gerassimow in den Raum.
Und wo steht Schoigus alter Freund und Gönner Putin? Die staatliche Agentur Ria Nowosti hat ein Video verbreitet, das Putin und Schoigu am Montag (12. Juni) beim Besuch eines Militärkrankenhauses in Kranogorsk bei Moskau zeigt. Putin dreht Schoigu den Rücken zu und wirft ihm einen abschätzig wirkenden Blick zu. Dann wendet er sich den verwundeten Soldaten im Krankenhaus zu. Und verleiht ihnen „Orden des Mutes“.