Nach dem Beschluss des Asylrechts-Antrags mit Unterstützung der AfD meldet sich die frühere CDU-Parteichefin. SPD und Grüne applaudieren Merkel.
„Halte ich für falsch“Merkel geht hart mit ihrem Nachfolger Merz ins Gericht – Beifall von SPD und Grünen
Es ist ein ungewöhnlicher Vorgang in Deutschland, dass ein ehemaliger Bundeskanzler oder eine ehemalige Bundeskanzlerin sich zur aktuellen politischen Situation äußert, darüber hinaus zu Entscheidungen ihrer eigenen Partei. Auch Angela Merkel hat sich bislang zurückgehalten. Selbst in ihrem kürzlich erschienen Buch und den begleitenden zahlreichen Interviews und Terminen vermied sie es, etwas zur Ampel-Regierung oder gar über ihren Nachfolger Friedrich Merz zu sagen.
Mit dieser Gepflogenheit hat die Altkanzlerin nun gebrochen. In sehr deutlichen Worten kritisiert sie die Vorgänge vom 29. Januar 2025 im Bundestag, als sich ihre Partei entgegen den vorherigen Beteuerungen von Parteichef Merz eine Mehrheit mit Hilfe der Rechtspopulisten sicherte – und das mit Ansage. Merkel gibt nicht einfach ein Interview, sondern veröffentlicht prominent auf ihrer Website ein Statement.
Angela Merkel wirft Friedrich Merz indirekt Wortbruch vor
Darin wendet sie sich gegen das Vorgehen ihrer Parteikolleginnen und -Kollegen, die ihren Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik mit Stimmen der AfD durchgesetzt hatten. In einer von ihrem Büro veröffentlichten Erklärung verweist sie auf eine frühere Aussage von Fraktionschef Friedrich Merz (CDU), nur mit SPD und Grünen zuvor vereinbarte Entscheidungen auf die Tagesordnung zu setzen, damit keine Mehrheit mit der AfD zustande kommt. „Dieser Vorschlag und die mit ihm verbundene Haltung waren Ausdruck großer staatspolitischer Verantwortung, die ich vollumfänglich unterstütze“, erinnert Merkel Merz an sein Versprechen vom November im Bundestag.
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Merkel fügt dann hinzu: „Für falsch halte ich es, sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden zu fühlen und dadurch am 29. Januar 2025 sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen.“
Ex-Kanzlerin Merkel verweist auf geltendes europäisches Recht
Stattdessen sei es erforderlich, „dass alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können“.
Wie wichtig Merkel, die 16 Jahre lang Bundeskanzlerin war und in letzter Zeit aufgrund ihrer Russland-Politik auch viel Kritik einstecken musste, das Thema Migration ist, machte sie erst Ende vergangenen Jahres deutlich. Dies war eines der wenigen aktuellen Themen, zu denen sie sich noch konkreter äußerte. Sie verteidigte ihre Geflüchtetenpolitik von 2015/16, als sie den Satz prägte: „Wir schaffen das“.
Im „Spiegel“ sprach sie im November 2024 von der „Menschenwürde“ in Europa. Der Gedanke von Wasserwerfern an der deutschen Grenze sei für sie furchtbar gewesen. Sie sagte auch, es sei eine „Illusion anzunehmen, alles wird gut, wenn wir Flüchtlinge an den deutschen Grenzen zurückweisen“. Sie fände dies nicht richtig, die sei auch für die europäische Idee ein Rückschritt.
Viel Zuspruch für Merkel von SPD und Grünen
Schon vor einigen Monaten stellte sich Merkel damit also gegen diese Pläne ihrer Partei. Nun findet die „Ohrfeige“ der Altkanzlerin für ihren Nachfolger in der Parteiführung ein breites mediales Echo. Politiker von SPD und Grünen, die die Union bereits am Mittwoch in der hitzigen Bundestagsdebatte vor der Abstimmung warnten, fühlen sich bestätigt.
SPD-Chefin Saskia Esken teilte mit: „Sie hat offensichtlich den Eindruck gewonnen, sie müsse ihren Nachfolger Friedrich Merz an seine staatspolitische Verantwortung erinnern.“ Mit den Worten „der Anstand“ überschrieb Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) seinen Hinweis auf die Erklärung Merkels im Internetdienst X, ehemals Twitter.
Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sandte Merkel einen „ganz herzlichen Dank für diese klaren Worte“. „Danke Angela Merkel“, schrieb auch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) auf X. Deren Worte „und dass sie überhaupt von ihr jetzt gesagt werden (müssen) zeigen den Abgrund, auf den die Union sich zubewegt“, fügte sie hinzu.
„Es gibt sie, die aufrichtigen Christdemokraten in der Union“, schrieb der Grünen-Bundestagsabgeordnete Bruno Hönel. „Angela Merkel ist eine von ihnen.“
Grünen-Parteichef Felix Banaszak schrieb auf X zu der Erklärung Merkels, es sei „traurig, dass in der Unionsspitze der Wunsch nach Abgrenzung zu ihr größer zu sein scheint als gegenüber der AfD“. Merkel „stand immer für eine CDU der demokratischen Mitte“, schrieb der Grünen-Bundestagsabgeordnete Marcel Emmerich. Im Gegensatz zu Merz tue sie dies auch heute noch.
Linnemann verteidigt Merz gegne Merkel
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verteidigte den Merz-Kurs dagegen. „Diejenigen, die heute in Verantwortung stehen, müssen (...) auf die aktuelle Sicherheitslage und die furchtbaren Ereignisse in Magdeburg und Aschaffenburg reagieren“, sagte der CDU-Politiker der „Rheinischen Post“. Zugleich ergänzte Linnemann: „Wir schätzen Angela Merkel und kennen ihre Einschätzung zur Migrationspolitik.“ Das Ziel der Union bleibe, „aus der demokratischen Mitte heraus illegale Migration zu stoppen sowie Humanität und Ordnung zusammenbringen“, sagte Linnemann.
Der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sagte er zudem: „Wir stehen zu unserem Wort. Wir werden mit der AfD nicht zusammenarbeiten.“ Wer Friedrich Merz diese Woche im Plenum zugehört habe, könne daran keinen Zweifel haben.
Auch Hessens früherer Ministerpräsident Roland Koch verteidigte Merz. Koch sagte der „Bild“-Zeitung: „Es ist offensichtlich, dass die CDU unter Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz in großer Einigkeit eine Kurskorrektur beim Thema illegale Migration vorgenommen hat.“
Aiwanger poltert gegen Merkel
Andere Unionspolitiker liegen dagegen nicht auf der Merz-Linie. Merkels ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters hatte sich im Bundestag der Stimme enthalten. Auch der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, sprach sich bei „t-online“ gegen eine Schließung der Grenzen aus: „Wir müssen [...] das Europarecht einhalten und, wenn erforderlich, weiterentwickeln. Wir dürfen nicht dagegen verstoßen! Das wäre der Anfang vom Ende Europas“, so der Diplomat. Heusgen war außen- und sicherheitspolitischer Berater von Merkel.
Heftigen Gegenwind für Merkel gab es dagegen aus Bayern. Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger schrieb gewohnt polemisch bei X: „Merkel hat uns das ganze Schlamassel eingebrockt. Sie ist die Mutter der AfD, weil sie die unkontrollierte Zuwanderung eingeleitet hat.“ Ihre jetzige Kritik sei „absurd“, so der bayerische Wirtschaftsminister.
Der Bundestag hatte am Mittwoch einem Antrag der Union zugestimmt, der Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen vorsieht. Dafür stimmten 187 Abgeordnete der Union, 75 AfD-Abgeordnete sowie 80 Angehörige der FDP-Fraktion und 6 Fraktionslose. Zusammen sind das 348 Stimmen. 344 Abgeordnete stimmten dagegen. (mit dpa)