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FlüchtlingssituationDer Blitz-Machtwechsel in Syrien und seine Auswirkungen

Lesezeit 6 Minuten
08.12.2024, Syrien, Damaskus: Menschen schießen in die Luft, als sie den Sturz der syrischen Regierung in Damaskus feiern. Foto: Ugur Yildirim/DIA Photo/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Menschen schießen in die Luft, als sie den Sturz der syrischen Regierung in Damaskus feiern.

Die CSU fordert den Stopp der weiteren Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland. Das kommt viel zu früh, sagen andere. Die Debatte nimmt Fahrt auf.

Nach dem blitzartigen Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad steht das Land vor einer ungewissen Zukunft. Die Flucht Assads und seiner Familie nach Russland bietet die Chance für einen Neubeginn nach Jahrzehnten Diktatur und fast 14 Jahren Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen.

Vieles hängt davon ab, ob sich die verschiedenen Rebellengruppen auf eine Verteilung der Macht einigen können – oder ob ein Machtvakuum zu neuer Gewalt führt und Syrien mit seinen ethnischen und religiösen Minderheiten im Chaos versinkt. Was in dem Land nach Assads Sturz folgt, könnte neue Konflikte in der Region auslösen.

UN-Sicherheitsrat berät über Syrien

Geir Pedersen, der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Syrien, mahnte, „Blutvergießen zu vermeiden“. Er rief zum Dialog und zur Vorbereitung einer Übergangsregierung in dem Land auf, in dem bewaffnete Kräfte und ausländische Mächte seit langem um Einfluss ringen.

Der UN-Sicherheitsrat in New York will auf Antrag Russlands heute hinter verschlossenen Türen über die Lage in Syrien beraten. Die Beratungen sollen am Abend deutscher Zeit stattfinden, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Diplomatenkreisen erfuhr.

Russland gewährt Assad Asyl

Rebellen unter der Führung der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hatten in der Nacht zum Sonntag die Kontrolle über die syrische Hauptstadt Damaskus übernommen und damit das Ende der mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Herrschaft Assads eingeläutet.

Der syrische Präsident Baschar al-Assad (l) spricht mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin während eines Treffens. (Archivbild)

Der syrische Präsident Baschar al-Assad (l) spricht mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin während eines Treffens. (Archivbild)

Seit Beginn der Großoffensive der Rebellen starben nach Angaben von Aktivisten 910 Menschen. Darunter seien 138 Zivilisten, auch mehrere Kinder, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Russland gewährte derweil Assad und seiner Familie laut Kreml-Angaben aus humanitären Gründen Asyl.

Migrationsforscher: Syrien könnte historischer Wendepunkt sein

Der Migrationsforscher Gerald Knaus sieht nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien die Chance auf Entspannung in der Flüchtlingskrise. „Mittelfristig – sollte Stabilität hergestellt werden – könnte das für die gesamte Flüchtlingssituation, auch in Europa, ein historischer Wendepunkt sein“, sagt Knaus dem „Stern“. „Syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern haben sofort die Chance zu sehen, ob es in ihrer Heimat wieder sicher ist. Ist das so, werden auch Asylanträge in Deutschland und anderen europäischen Ländern zurückgehen.“

Nach Ansicht von Knaus könnten sich die Entwicklungen in Syrien auch auf die hiesige Politik auswirken. „Wenn sich Syrien stabilisiert, könnte das auch unsere Politik dramatisch und positiv verändern“, sagte er. „Sollte sich die Zahl syrischer Asylanträge 2025 schnell verringern, würde extrem gefährlichen Kräften das Wasser abgegraben – der AfD hierzulande, der FPÖ in Österreich. Deswegen muss das Thema der Stabilisierung Syriens absoluten Vorrang haben, auch was die außenpolitischen Anstrengungen angeht.“

Skeptischer Laschet mahnt: „Wenn das schief geht...“

Der CDU-Politiker Armin Laschet schlägt in eine ähnliche Kerbe. Auch er glaubt, dass die Stabilisierung des Landes oberste Priorität haben muss. Der ehemalige Kanzlerkandidat ist nach dem Sturz Assads allerdings skeptisch, dass das gelingt und es für Syrien aufwärts geht. „Ich wünsche alles irgendwie Gute für das syrische Volk“, sagte der frühere Kanzlerkandidat der Union in der ARD-Sendung „Caren Miosga“. „Aber zu sagen, jetzt gibt's in Syrien sicher eine gute Zukunft, die Russen sind geschlagen und der Assad ist weg, da würde ich vor warnen.“

„Die Kräfte, die das jetzt sind, ob die wirklich am Ende einen Staat schaffen, wo Frauenrechte, wo Freiheit für Menschen garantiert ist, da muss noch viel passieren“, sagte Laschet. Er betonte auch die Verantwortung Europas, Syrien in der Ära nach Assad zu unterstützen. „Wenn das nämlich schiefgeht, was nicht ausgeschlossen ist, heißt das für neue Flüchtlingsbewegungen natürlich, dass sie direkt Europa erreichen.“

Debatte über veränderte Migrationspolitik noch zu früh

Der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter hat davor gewarnt, härter gegen syrische Flüchtlinge in Deutschland vorzugehen. „Es ist vollkommen unklar, wie es jetzt in Syrien weitergeht“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Überlegungen, nach dem Sturz von Assad unsere Migrationspolitik zu verändern und härter gegen syrische Geflüchtete vorzugehen, sind völlig fehl am Platz.“

Der demokratische Prozess müsse nun mit aller Kraft vorangebracht werden, fuhr Hofreiter fort. Zuallererst müssten dabei die Rechte von Minderheiten in Syrien sichergestellt sein.

Andrea Lindholz (CSU), Bundestagsabgeordnete, spricht im Bundestag. (Archivbild)

Andrea Lindholz (CSU), Bundestagsabgeordnete, spricht im Bundestag. (Archivbild)

Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz (CSU) hatte in der „Rheinischen Post“ den Stopp der weiteren Aufnahme syrischer Flüchtlinge gefordert. „Wir haben in den letzten Jahren unsere humanitären Verpflichtungen übererfüllt“, sagte sie. Sollte es irgendwann zu einer Befriedung in Syrien kommen, entfalle für viele Syrer auch „die Schutzbedürftigkeit und damit der Grund für ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland“.

Die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel hatte am Sonntag bei X, ehemals Twitter geschrieben, dass Deutschland „vor dem Hintergrund drohender Wanderungsbewegungen aus Syrien“, das klare Signal aussenden müsse, dass „die Grenzen zu sind“.

Nach Sturz von Assad in Syrien: Gemischte Reaktionen in der Region

Während in Deutschland die Debatte um eine veränderte Flüchtlingspolitik längst begonnen hat, ist in Syrien noch völlig unklar, wie es weitergeht. „Wir sehen eine große Veränderung in der Region. Die Türkei ist stärker geworden, Russland ist schwächer geworden, der Iran ist schwach geworden“, zitierte das „Wall Street Journal“ einen syrischen Oppositionspolitiker. „Aber es sind die Syrer, die jetzt eine große Rolle spielen werden, nicht wie früher“, sagte er.

Die Türkei rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, einen geordneten Übergang in Syrien zu unterstützen. Ankara trage maßgeblich die Verantwortung dafür, dass dieser Prozess zu mehr Stabilität und zu einer Rückkehr der Flüchtlinge führt, sagte Charles Lister, Direktor des Syrien-Programms am Middle East Institute, der Zeitung. Es müsse darum gehen, zu verhindern, dass es zu einem neuen Bürgerkrieg kommt.

Syrien müsse sicher und stabil bleiben, zudem müssten Konflikte vermieden werden, die „zu Chaos führen“, sagte Jordaniens König Abullah II nach Angaben des Hofes. Ägyptens Außenministerium forderte einen umfassenden politischen Prozess, um eine „neue Phase innerer Harmonie“ und eines Friedens zu schaffen. Das saudische Außenministerium teilte mit, das Königreich stehe den Syrern und deren Entscheidungen „in dieser entscheidenden Phase der syrischen Geschichte“ zur Seite. Die Einheit und der Zusammenhalt Syriens müsse geschützt werden, hieß es.

Biden: US-Soldaten bleiben in Syrien

Der scheidende US-Präsident Joe Biden kündigte unterdessen an, dass amerikanische Soldaten bis auf Weiteres in Syrien bleiben werden. Die USA ließen nicht zu, dass die Terrormiliz IS dort das Machtvakuum nutzen könne, um den eigenen Einfluss wieder auszubauen, sagte Biden.

Israel verlegt Truppen in Pufferzone

Israel verlegte derweil seine Streitkräfte in die Pufferzone auf den besetzten Golanhöhen und anderen Orten, darunter auch auf der syrischen Seite des Berges Hermon. „Seit gestern Abend sind wir an vier Fronten im Kampfeinsatz. Die Bodentruppen kämpfen an vier Fronten: gegen den Terrorismus in Judäa und Samaria, im Gazastreifen, im Libanon, und gestern Abend haben wir Truppen in syrisches Gebiet verlegt“, sagte Israels Generalstabschef Herzi Halevi.

Die israelische Luftwaffe flog laut Aktivisten nach dem Sturz Assads Angriffe im Raum der syrischen Hauptstadt Damaskus. Das Militär habe in der Nähe des Militärflughafens angegriffen, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Auch im Osten Syriens habe es Angriffe gegeben. Zuvor hatte Israels Luftwaffe nach Medienberichten eine Chemiewaffenfabrik angegriffen aus Sorge, die Waffen könnten in die Hände von Rebellen fallen.

Kriegsforscher: Putins Glaubwürdigkeit beschädigt

Der plötzliche Sturz des von Russland unterstützten syrischen Machthabers Assad erschüttert nach Ansicht des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) auch die Glaubwürdigkeit von Kremlchef Wladimir Putin bei dessen Verbündeten. Putin habe autoritäre Machthaber in verschiedenen Ländern vor Protesten gegen ihre Herrschaft geschützt, um sein Ziel einer multipolaren Weltordnung mithilfe ausländischer Partner zu befördern und die Vormachtstellung der USA zu untergraben, schreibt das Institut in einer aktuellen Lageeinschätzung.

„Russlands Unfähigkeit oder bewusster Verzicht darauf, Assads Regime trotz des schnellen Vorrückens der Oppositionskräfte im ganzen Land zu stärken, wird auch Russlands Glaubwürdigkeit als verlässlicher und effektiver Sicherheitspartner in der ganzen Welt beschädigen“, heißt es in der Analyse. (pst mit dpa/afp)