KBV-Chef zu Corona„Als Arzt bin ich über manche Entscheidungen irritiert“
- Andreas Gassen ist Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).
- Mit ihm sprach Kerstin Münstermann über die Sinnhaftigkeit der aktuellen Corona-Maßnahmen.
- Zum Beispiel sieht er die Maskenpflicht im Freien eher skeptisch.
Herr Gassen, wie spiegelt sich die derzeitige Corona-Lage in den Arztpraxen wider?Gassen Die Menschen sind vor allem verunsichert. Diese Unsicherheit führt zu einem hohen Beratungsaufwand für Ärzte. So gibt es durch die in der Vergangenheit nicht immer nachvollziehbaren Testansätze Unruhe in den Praxen. Patienten wollten getestet werden, bekamen diese Testungen aber nicht sofort. Das führte mitunter zu unnötigen Stresssituationen. Die Praxen sind aktuell noch weniger durch die Behandlung von tatsächlich an Covid-19-Erkrankten als durch das Drumherum belastet. Allerdings machen sich Psychiater und Psychotherapeuten Sorgen um das Wohl ihrer Patienten. Depressive Menschen beispielsweise reagieren auf bedrohliche Szenarien besonders sensibel.Wen machen Sie für die Verunsicherung verantwortlich?
Gassen Das grundsätzliche Ziel der Kanzlerin, das Corona-Virus einzudämmen, ist ja klar und richtig. Aber die Einschätzung, wie man dieses Ziel erreicht, ist nicht unumstritten. Als Arzt bin ich über manche Entscheidungen und vor allem über den bedrohlichen Ton irritiert, der jede Entscheidung, die nicht durchweg sinnvoll erscheinen, begleitet. So ist mancher Beschluss, den die Ministerpräsidentenkonferenz quasi in Übernahme des Regierungshandeln fasst, ist fragwürdig – umso mehr als die Umsetzung, man könnte fast sagen Gottseidank, dann nicht einheitlich erfolgt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Gassen Das Beherbergungsverbot war zum Beispiel ein großer Fehlschlag. Die Regelung war völlig unklar, regional unterschiedlich und adressierte ein Problem, das es eigentlich gar nicht gab. Als Folge bildeten sich lange Schlangen vor manchen Hausarztpraxen, kerngesunde Menschen wollten plötzlich getestet werden, um noch in Urlaub fahren zu können. Wir haben unfassbar viel Geld und Kapazitäten verbrannt für eine sinnlose Regelung – genau das können Ärzte in der Pandemie nicht gebrauchen.Ist die Maskenpflicht im Freien sinnvoller?
Gassen Diese wohl besonders von CSU-Chef Markus Söder geforderte Maßnahme ist ebenfalls schwer nachvollziehbar. Es gibt draußen normalerweise kaum Ansteckungen. Als Grund für die niedrigen Zahlen im Sommer wurde bekanntermaßen angeführt, dass man sich vor allem draußen aufhalte, wo man sich nicht anstecken würde. Jetzt kommt der Winter, die Menschen gehen nach drinnen und man fordert eine Maskenpflicht im Freien? Sinn macht eine Maskenpflicht an der frischen Luft nur dann, wenn man dicht an dicht steht, wie vielleicht an Glühweinständen. Maskentragen beim Spazierengehen, Radfahren oder Gehen auf dem Bürgersteig macht aber nicht wirklich Sinn.
Fürchten Sie einen Überdruss der Menschen?
Gassen Wenn man dauerhaft überbordende Zwänge garniert mit Horrorszenarien verbreitet, wie es ja das fast schon berüchtigte „Hammer & Dance“ Papier des Innenministeriums fordert, riskiert man, dass die Menschen es irgendwann leid sind und sich an nichts mehr halten, Gefahren unterschätzen und leichtsinnig werden.
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Es macht aber sehr viel Sinn, Abstand zu halten, zu lüften, in den richtigen Situationen Maske zu tragen und auch die Corona-Warn-App zu installieren. Aus meiner Sicht ist die App ein sehr sinnvolles ressourcenschonendes Mittel, ohne dass dabei Persönlichkeitsrechte verletzt werden.Gehen diese Einschränkungen irgendwann zu Ende?
Gassen Natürlich- aber nicht in den nächsten Wochen. Es ist ein schon noch ein langer Geduldsfaden nötig, das Virus verschwindet nicht einfach. Selbst wenn wir in einem Jahr in größerem Umfang einen Impfstoff bekommen und sich viele impfen lassen, muss uns klar sein: Corona wird Teil der Lebensrealität werden die deshalb aber nicht bedrohlich sein wird. Den Menschen jeden Tag Angst zu machen und etwa dem Zwanzigjährigen, der positiv getestet wurde, mit apokalyptischen Folgen zu drohen oder ihn als Gefährder zu bezeichnen, ist nicht seriös.Ist die 50er-Regel – also 50 Infizierte auf 100.000-Einwohner in sieben Tagen - als Grenze sinnvoll?
Gassen Die Grenze ist willkürlich und nicht medizinisch begründet, andererseits braucht man politisch irgendeine Grenze, die dann aber mit Augenmaß verwendet werden sollte. Die Vorstellung, dass man bei bis zu 49 Menschen nichts unternimmt und ab 51 Infizierten in den Lockdown geht, wäre natürlich Unfug und würde die Menschen nicht mitnehmen. Alle Zahlenspiele und Modellrechnungen die uns täglich präsentiert werden beruhen auf der Annahme, dass wir ein realistisches Bild über die Zahl Neuinfektionen haben. Aber das haben wir sicher nicht.
Daraus folgt was genau?
Gassen Die WHO schätzt, dass die Infizierten-Zahlen weltweit bis zu zwanzigfach unterschätzt sein könnten. Das gilt für Deutschland sicher so nicht. Doch selbst wenn die Zahlen nur zwei oder dreifach unterschätzt sein sollten und in Wahrheit viel höher lägen, wie wahrscheinlich im Frühjahr, relativiert dies etwa Sterblichkeit und Klinik-Einweisungen erheblich. Dazu muss man sagen dass wir laut Statischem Bundesamt zum jetzigen Stand keine relevante Übersterblichkeit in Deutschland haben. Anders ausgedrückt: wir bewegen uns im Rahmen üblicher Schwankungen.
Sie halten also härtere Maßnahmen für übertrieben?
Gassen Wichtiger als pauschale härtere Maßnahmen ist: Wir müssen die verwundbaren Gruppen besser schützen. In Kitas und Schulen ist die Übertragung gering, dass zeigen die Zahlen aus NRW. Aber erneute Ausbrüche in Pflege- und Altenheimen sind bedenklich.Macht die neue Teststrategie in diesem Zusammenhang Sinn?
Gassen Anlassbezogen zu testen macht Sinn, also in Krankenhäusern, in Altenheimen und Pflegeheimen. Hier können Schnelltests eine gute Ergänzung sein. Aber anlassloses Tests, zum Beispiel an Autobahnraststätten, sind nicht notwendig. Solche Maßnahmen binden Personal, kosten Geld und verschleudern Testkapazitäten. Der Erkenntnisgewinn ist minimal.Ist das deutsche Gesundheitssystem überlastet?
Gassen Die Kliniken und Intensivstationen sind Stand heute von Überlastung weit entfernt. Wir verfügen über genügend Kapazitäten. Aber natürlich dürfen wir die Infektionszahlen nicht ins Uferlose laufen lassen. Mit Millionen Neuinfizierter in kurzer Zeit käme auch unser System irgendwann an seine Grenzen. Gesellschaft und Politik sollten aber nicht nur auf die Zahl der Neuinfektionen schauen. Also nicht panisch werden, wenn die Zahlen ansteigen, nicht zu nachlässig werden, wenn sie runtergehen. Andere Faktoren wie Erkrankungsalter, Erkrankungshäufigkeit, lokale Kapazität des Gesundheitswesens, müssen zusätzlich berücksichtigt werden. Die Pandemie wird nicht am Rechenschieber beendet. Corona ist keine Bagatellerkrankung, aber auch nicht Ebola–den Untergang des Abendlandes zu prophezeien und das halbe Land abzuriegeln, macht meiner Einschätzung nach keinen Sinn und wäre nicht zu rechtfertigen.