Berlin – Im September forderte Kassenärztechef Andreas Gassen noch den „Freedom Day“ für Oktober. Dann kam die vierte Welle und die Corona-Mutante Omikron. Jetzt übt der Orthopäde und Unfallchirurg im Gespräch mit Tobias Schmidt Kritik am „Aktionismus“ der Bundesregierung.
Herr Gassen, heute treten bundesweit strikte Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte und Genesene in Kraft. Muss das wirklich sein?
Andreas Gassen: Ob die Obergrenzen für private Treffen von Geimpften und Genesenen ein notwendiges und wirksames Mittel sind, ist aufgrund der Datenlage kaum zu beurteilen. Und kommunikativ ist das eine echte Herausforderung. Es hieß doch immer: Das Impfen ist ganz wichtig, es schützt und macht den Unterschied. Wenn jetzt auch vollständig Geimpfte und sogar Geboosterte in eine Art Lockdown light müssen, sich nicht mehr treffen dürfen, wirkt das für viele Menschen vermutlich so, als wenn die Impfungen doch nicht so wichtig und wirksam seien. Für die Impfkampagne ist das natürlich keine Werbung.
Braucht es keine harten Kontaktbeschränkungen, um die Omikron-Mutante auszubremsen?
Wir wissen, Omikron ist deutlich ansteckender, und wie bei Delta können sich auch Immunisierte anstecken. Was wir aber auch wissen: Von den zweimal Geimpften und insbesondere den dreifach Geimpften werden selbst bei einer Infektion mit Omikron offenbar nur wenige schwer krank. In Großbritannien ist die Omikron-Variante schon dominierend. Ein rasanter Anstieg der Intensivpatienten ist dort ebenso wenig zu beobachten wie in Südafrika, wo die Omikron-Infektionswelle schon wieder in sich zusammenfällt. Ob allein wegen der höheren Ansteckungsrate der neuen Corona-Variante das Gesundheitssystem und die kritischen Infrastrukturen ohne Lockdown wirklich bald überlastet wären, das ist seriös derzeit nicht vorauszusagen. Die neue Ampel-Regierung will dem Vorwurf vorbeugen, nicht rechtzeitig gehandelt zu haben. Doch gerade beobachten wir meiner Meinung nach wieder Aktionismus und Überreaktionen, bevor die Wirkung vereinbarter Maßnahmen auch nur ansatzweise überprüft worden wäre.
Es wurde oft gewarnt, doch viele Horrorszenarien sind nie eingetreten. Ist das womöglich die bewusste Strategie des neuen Expertenrates von Olaf Scholz?
Tja, das ist eine schwierige Frage: Reicht die Warnung an sich, damit die Menschen vorsichtig werden und so die Virusverbreitung stoppen? Im November hat Angela Merkel noch einmal versucht, einen Lockdown zu verhängen. Der kam nicht. Die Zahlen sind trotzdem gesunken. Es war also eher die Schwarmintelligenz der Gesellschaft, die bei 70000 Neuinfektionen pro Tag den Unterschied gemacht hat. Da sind die Leute nicht mehr zum Shoppen oder in die Kneipe gegangen und haben ihre Kontakte reduziert, aber ohne dass es ihnen verboten worden wäre.
Ist die Schwarmintelligenz nicht zu langsam für einen Omikron-Tsunami?
In manchen Modellen erscheint Omikron tatsächlich wie ein Tsunami mit gewaltigen Infektionswellen. Die schiere Masse an Menschen, die nicht mehr zur Arbeit gehen können, führt in der Theorie zu möglichen Überlastungen von Infrastrukturen, nicht nur für Kliniken, sondern auch für Energieversorger oder die Müllabfuhr. Aber das Leben ist kein Modell. Ich hoffe und erwarte nicht, dass das Schlimmste eintritt, auch wenn ich es nicht ausschließen kann.
Noch im September hatten Sie einen „Freedom Day“ für Ende Oktober gefordert. Der kam nicht, stattdessen rollte die vierte Corona-Welle durchs Land. Haben Sie die Lage damals völlig falsch eingeschätzt?
Moment! Meine Botschaft lautete nie, alle Vorsicht fahren zu lassen. Es ging mir darum, das Impfen über die Selbstschutz-Motivation der Menschen anzukurbeln. Damit sollte der Fokus auf die Individualverantwortung gelegt werden. Dieses in vielen Ländern diskutierte und auch vielerorts umgesetzte Vorgehen fand in Deutschland keine politische Mehrheit. Mittlerweile haben aber viele Menschen den Eindruck, dass wir seit zwei Jahren in einem nicht enden wollenden Strom aus Maßnahmen feststecken ohne die Pandemie in den Griff zu bekommen. Daher nehmen auch die gesellschaftlichen Spannungen immer weiter zu.
„Freedom-Day“-Erfinder Boris Johnson bleibt trotz Omikron bei seinem Kurs. Ist das nicht Wahnsinn?
Ob leichtsinnig oder mutig, das können wir jetzt noch nicht beurteilen. Dazu fehlt es uns noch an Wissen über die Gefahr, die von Omikron ausgeht. Es ist aber sicher nicht ohne Risiko, da das britische Gesundheitssystem schon ohne Pandemie oft am Anschlag arbeitet, wenn ab Herbst die Grippewellen anrollen. Die Bürgerinnen und Bürger aufzurufen, sich impfen zu lassen und sehr vorsichtig zu sein, das braucht es mindestens.
Können Appelle ausreichen, um die Mutante zu beherrschen?
Nochmal: Dass sich nur noch zehn Personen aus einem Familienkreis treffen dürfen, selbst wenn alle vollständig geimpft sind, und nicht 12 oder 15, das erschließt sich mir nicht. Das ist auch nicht zu erklären, und deswegen verliert die Politik hier viele Menschen, die bislang noch mitgemacht haben. Ich darf an dieser Stelle auf den US-Immunologen Anthony Fauci verweisen, der vor wenigen Tagen, Omikron war da schon dominant in den USA, sagte, Familientreffen bei denen alle geimpft und geboostert wären, seien sicher.
Das ist die ungleich positivere Aussage von einem Mann der nun keineswegs als Coronarelativierer gelten kann. Ungeimpften das Leben schwerer machen ist das Eine und aktuell mehrheitlich unterstützt. Aber warum wurde 2G nicht erst einmal mehre Wochen konsequent umgesetzt, mit engmaschigen Kontrollen? Dass Maßnahmen jetzt für alle gelten, ist doppelt Wasser auf den Mühlen der Corona-Leugner und Impfgegner. Die sagen jetzt: Willkommen im Club derer, die nix dürfen. Das Signal ist doch: Geimpft oder nicht, das ist letztlich egal. Und das zweite Signal: Ich kann Corona auch kriegen, wenn ich geimpft bin, also kann ich das Impfen auch sein lassen. Es ist aber eben nicht egal! Das Impfen macht auch bei Omikron einen riesigen Unterschied. Doppelt Geimpfte und Geboosterte bremsen die Variante aus , Ungeimpfte lassen ihr freie Fahrt. Das muss auch ganz klar so kommuniziert werden.
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Kann beim Impfen und Boostern das Tempo eigentlich noch erhöht werden?
In gewissen Grenzen vielleicht, aber da bitte ich um Realismus. Wir impfen gerade so schnell wie niemand sonst in Europa, rund sieben Millionen Impfungen pro Woche! Zum Jahreswechsel haben wir dann wahrscheinlich einen vorübergehenden, durch Impfstoffmangel bedingten Durchhänger. Viele Praxen werden auch „zwischen den Jahren“ impfen, aber kaum an Silvester und am Neujahrstag. Wenn wir zu Jahresbeginn wieder das Niveau der letzten Vorweihnachtswoche erreichen, stehen wir sehr gut da, viel mehr ist nicht herauszuholen. Die von der Bundesregierung ausgerufene Impfquote von 80% der Gesamtbevölkerung wäre vor diesem Hintergrund möglich, wenn es jetzt gelingt, noch mehr Menschen vom Nutzen der Impfung zu überzeugen.
Wird der erste Totimpfstoff, der nun zugelassen ist, womöglich viele Impfskeptiker bewegen, sich doch noch impfen zu lassen?
Klar, Joshua Kimmich und vielleicht noch ein paar andere Fußballer. Aber im Ernst: Die Diskussion ist an Absurdität kaum noch zu überbieten. Erst hatten wir 83 Millionen Fußballnationaltrainer, jetzt haben wir 83 Millionen Impfstoffexperten. Die allermeisten, die angeblich auf einen Totimpfstoff warten, dürfen kaum die Unterschiede zu den sehr wirksamen und sicheren mRNA-Impfstoffen benennen können, finden das aber trotzdem furchtbar wichtig. Ja, vielleicht erreichen wir mit den neuen Vakzinen noch diejenigen, die bislang gesagt haben, ich warte auf eine Alternative zu mRNA. Hoffentlich. Um etwas Wasser in den Wein zu gießen, ist Novavax streng genommen kein klassischer Totimpfstoff. Er enthält keine vermehrungsfähigen Viren, das tun mRNA Impfstoffe übrigens auch nicht, und wird deshalb vom RKI einem Totimpfstoff gleich gesetzt.
Kann mit Novavax die Impfpflicht kommen?
Wir halten die zeitnahe Erstellung eines zentralen Registers zur Vorbereitung einer möglichen Corona-Impfpflicht für unrealistisch. Der Aufbau eines solchen nationalen Registers durch wen auch immer würde Monate, vielleicht auch Jahre dauern, damit wäre uns im Moment nicht geholfen. Besser als jetzt ein großes unbeherrschbares Rad zum Thema Impfpflicht und Impfregister zu drehen, wäre es, alle Anstrengungen aufs Impfen und Boostern zu richten. Hinzu kommt: Man kann den Leuten nicht ernsthaft eine Impfpflicht auferlegen und dann feststellen, dass die Wirkung des Impfstoffes immer nur ein paar Monate hält. Im Augenblick stecken wir ja mitten in einer durchaus erfolgreichen Boosterkampagne, die ersten sprechen aber schon von einer 4. Impfung. Es werden sich zunehmend Menschen nach dem Sinn einer Impfung fragen die nur wenige Monate schützt. Die beiden Primärziele die man mit einer Impfpflicht erreichen will, also Viruseradikation und Herdenimmunität, sind bei Sars-Cov-2 ohnehin nicht zu erreichen.
Also Finger weg von der Impfpflicht?
So lange es zu den wesentlichen Fragen keine abschließende Antwort gibt, sollte sich die Politik mit Impfpflicht-Ankündigungen jedenfalls bedeckt halten, sonst werden einerseits unerfüllbare Erwartungen geweckt und andererseits unnötig gesellschaftliche Konflikte geschürt. Wenn am Ende des Tages nicht nennenswert mehr Leute geimpft werden, bringt die Impfpflicht außer massivem Ärger, aggressiven Demonstrationen und einer Klageflut nicht viel.