Eine Kleinstadt unter Dauerfeuer: Ein Besuch im ukrainischen Tschassiw Jar zeigt die fatale Wirkung russischer Gleitbomben, die Bedeutung von Aufklärungs- und Kampfdrohnen – und den Durchhaltewillen der ukrainischen Verteidiger.
Kämpfe ums ukrainische Tschassiw Jar„Wer sich den Russen ergibt, zögert nur seinen Tod hinaus“
Rechts der Straße feuert die ukrainische Artillerie. Die Strecke führt direkt nach Tschassiw Jar. Oberst Sergij Osatschuk gibt Gas. Es ist der dritte Kriegssommer. Die Kleinstadt steht unter Dauerfeuer der russischen Armee. Nach der Schlacht um Bachmut gilt die Region um Tschassiw Jar als Hotspot an der Ostfront. Viele sprechen vom neuen „Fleischwolf“, weil hier von beiden Seiten so viele Soldaten ins Verderben geschickt werden wie kaum anderswo an der fast 1400 Kilometer langen Kontaktlinie. Angriffswelle um Angriffswelle, Tag um Tag, Woche für Woche wird hier gestorben, getötet und ums Überleben gekämpft. Von der 14000-Einwohner-Stadt ist kaum noch etwas übrig. Das zeigen Drohnen-Videos sowohl des ukrainischen wie des russischen Verteidigungsministeriums.
Rauchwolken steigen auf dem Hügel vor uns auf. Einschläge der russischen Artillerie. Rechts der Straße auf den Feldern und Wiesen sind mehrere Reihen Betonklötze, sogenannte Drachenzähne, zu sehen. Sie sollen russische Panzereinheiten von einem Durchbruch abhalten.
Bausatz-Drohnen aus Privatwohnungen
Die erste Hälfte der Straße Richtung Kramatorsk würden sie noch kontrollieren, erzählt Oberst Sergij Osatschuk. „Die andere Hälfte Richtung Bachmut steht unter Feuer der Russen. Deshalb nehmen wir nur noch die Feldwege über die Hügel.“ Dorthin lenkt der Oberst des ukrainischen Grenzschutzes seinen Militärjeep. „Die geteerte Straße am Tag ohne Anti-Drohnen-Abwehr weiterzufahren, wäre Selbstmord“, so der Oberst. Ein gepanzertes Einsatzfahrzeug mit einem zerstörten Reifen kommt uns im Schritttempo entgegen. Die Besatzung scheint Glück gehabt zu haben.
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Die hügelige Landschaft im Oblast Donezk ist eigentlich schön, wenn da nicht die Einschläge der russischen Artillerie wären. Ein Wohnhaus steht verlassen in der Landschaft. Das Dach ist zur Hälfte weggeschossen. Zuvor waren wir durch kleine Dörfer gefahren, in denen ukrainische Soldaten Schutz suchen. Was auffällt, sind in Tarnfarben lackierte Geländewagen aller möglichen Bauarten. Das sind überwiegend Privatautos oder von Bürgern gespendete Fahrzeuge, mit denen die Ukrainer hier operieren.
Das gilt sogar für viele Drohnen. Oft werden sie gespendet und in Bausätzen in Privatwohnungen zusammengebaut, bevor sie an die Front gehen. Einer dieser unzähligen Drohnen-Bastler ist Vitali. Der 41-Jährige war bei der Schlacht um Bachmut schwer am Bein verletzt worden. Jetzt baut er gespendete Drohnen zusammen und schult Rekruten darin, wie sie den Feind am besten bekämpfen können. 200 bis 300 Dollar kostet so ein Bausatz, der am Ende auch millionenschwere Panzer zerstören kann. „Die Lieferungen von der Regierung in Kiew reichen noch nicht aus – so groß ist der Bedarf“, sagt Vitali.
Die Drohnen stehen für die Zukunft des Krieges, die Schützengräben entlang der Front für die Grauen des Ersten Weltkrieges. Hier an der Ostfront treffen beide Welten aufeinander – und sogar noch eine dritte. Denn längst wird auf diesem Schlachtfeld auch die Frage ausgefochten, wer in der künftigen Weltordnung die Oberhand gewinnt – die USA mit ihren Alliierten wie der EU oder Russland, China, Nordkorea und der Iran, die eines eint: der Hass auf den Westen.
„Sie quetschen uns aus unseren Stellungen heraus“, erklärt Osatschuk. „Das ist wie bei einer fast leeren Zahnpastatube, aus der man noch das Letzte herauspressen will.“ Wie das auf dem Schlachtfeld konkret geht? Der Oberst erklärt die Strategie des Feindes: Zunächst kämen Luftwaffe, schwere Artillerie und Raketen zum Einsatz. Die würden die Stellungen der Ukrainer unter Beschuss nehmen, Tag und Nacht, rund um die Uhr, Woche um Woche. Besonders gefürchtet seien die russischen Gleitbomben. „Dagegen sind wir machtlos“, räumt der Oberst ein. Das heißt: Auch die vom Westen gelieferte Luftabwehr wie das Patriot-System hat dem kaum etwas entgegenzusetzen.
Das Perfide an den Gleitbomben: Sie werden von russischen Kampfjets 60 bis 80 Kilometer von der Front ausgeklinkt, wie der Oberst erklärt. Mit kleinen Flügeln und Antrieb rasen sie ihrem Ziel entgegen, um auf den letzten Kilometern in einen Gleitmodus zu wechseln – ohne Hitze oder Lärm zu verursachen.
Russen holen bei Drohnen auf
Hinzu kämen die Überwachungsdrohnen „Orlan“ und „Zala Lancet“ der Russen, die so hoch fliegen, dass die Ukrainer dagegen kaum Mittel der Abwehr haben, wie Oberst Osatschuk bestätigt. Damit sind Schlachtfeld und Hinterland für die Russen weitgehend gläsern. „Diese Transparenz haben wir mit unserer Technik aber auch über die russische Seite“, erklärt der Oberst. Für die Artilleriestellungen auf beiden Seiten der Front kann das fatal sein. Dadurch wird auch der Transport der Truppen und die Logistik von Waffen und Munition enorm erschwert, weil der Feind fast alle Bewegungen beobachtet. Deshalb fahren die Einheiten oft nachts und ohne Licht. Es gebe auch auf den Einsatzfahrzeugen Anti-Drohnen-Systeme, um Kamikazedrohnen abzuwehren, erläutert Osatschuk. Die Russen hätten aber auch hier technisch enorm aufgeholt. So könne die neueste Drohnen-Generation die Signale der Störsender aufspüren, um dann auf eine andere Frequenz zu wechseln.
Zugleich griffen die Russen mit kleinen Infanterieeinheiten von zwei bis drei Mann an. Das führe dazu, dass die ukrainischen Soldaten in den Schützengräben das Schlachtfeld vor sich rund um die Uhr im Auge behalten müssen, berichtet der Militär. Jederzeit könne plötzlich ein russischer Soldat vor ihnen auftauchen. Ihre Artillerie dürfen die Ukrainer nicht für kleine Vorstöße verwenden. „Die kommt nur zum Einsatz, wenn größere Verbände und gepanzerte Fahrzeuge vorrücken. Wir müssen Munition sparen. Das wissen die Russen“, sagt der Oberst.
Zeitweise hätten die Russen 50000 bis 70000 Schuss abgefeuert – pro Tag! Die Ukrainer hätten dagegen nur 2000 bis 4000 Schuss abgeben können, vor allem in der Zeit, als die USA keinen Nachschub geliefert hätten. Nachdem die Republikaner ihren Widerstand aufgegeben hätten, habe sich die Lage verbessert. „Jetzt sind die Russen uns bei der Artilleriemunition noch im Verhältnis 3 zu 1 überlegen“, sagt Oberst Osatschuk. Hin und wieder gebe es Großangriffe mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Auch hätten die Russen jetzt mit Motorrädern experimentiert, um an die vordere Frontlinie zu kommen. „Die Lage ist dynamisch.“
Die russische Kriegsgefangenschaft sei unvorstellbar schlimm, meint der Offizier. Folter, Schläge und menschliche Entwürdigungen ständen auf der Tagesordnung, hätten Überlebende berichtet. „Wir müssen bis zum Letzten kämpfen. Wer sich den Russen ergibt, zögert nur seinen Tod hinaus.“ Dass Russland ein Rekrutierungsproblem habe, wie oft in westlichen Medien kolportiert wurde, kann der Oberst nicht bestätigen.
Russische Soldaten lockt das Geld
„Dass russische Kriegsgefangene wie zu Beginn des Krieges behaupten, sie hätten gar nichts von Putins Angriffskrieg gewusst, gibt es schon lange nicht mehr“, berichtet er. Die Russen würden freiwillig in den Krieg ziehen, wegen des Geldes und Putins Propaganda. Bis zu 3000 Dollar Sold würden sie pro Monat erhalten. „Die gut ausgebildeten Einheiten bleiben oft in der Regel in der zweiten und dritten Reihe. Die nach vorn geschickt werden, sind meist Soldaten aus den Randgebieten Russlands.“
Als die Sprache auf die Höhe der ukrainischen Verluste kommt, wird der Oberst sehr ernst. „Im Zweiten Weltkrieg sind Millionen Ukrainer getötet worden“, sagt er. „Ich und meine Kameraden sterben lieber im Kampf, als Putins Sklaven zu werden. Es spielt daher keine Rolle, ob wir am Ende 30 Millionen Ukrainer sind, 20 oder zehn Millionen. Wir kämpfen für unsere Freiheit.“
Von einer Rückeroberung aller besetzter Gebiete und der Krim ist im Unterschied zum vergangenen Jahr derzeit kaum noch etwas in der Ukraine zu hören. Die medial groß angekündigte Gegenoffensive war 2023 unter herben Verlusten bei Personal und Material gescheitert. Die kleinen Gebietsgewinne sind mittlerweile fast vollständig von den Russen wieder zunichtegemacht worden.
Würde Tschassiw Jar fallen, müssten die Russen als nächstes Kostjantyniwka erobern. Die zehn Kilometer entfernte Stadt hatte vor dem Krieg rund 70 000 Einwohner. Jetzt leben überwiegend Soldaten in den Kellern der Arbeiterwohnblocks, von denen viele beschädigt sind.
„Wir werden niemals aufgeben und notfalls auch nur mit unseren Händen weiterkämpfen, sollten uns die Waffen ausgehen“, sagt Osatschuk. „Wir stellen uns auf einen Krieg ein, der auch noch zehn Jahre dauern kann.“ Ohnehin sei es ein großer Erfolg der Ukrainer, Russlands Angriff standzuhalten.