Das ukrainische Militär deutet eine „taktische Einkesselung“ des russisch besetzten Bachmut an. Was hat das zu bedeuten – und was soll das bewirken?
Kämpfe bei Bachmut gehen weiterMachen die Ukrainer es jetzt wie Hannibal?
Zweifellos: Offenes und ehrliches Auftreten ziert einen Offizier, aber im Fall des ukrainischen Generalobersten Oleksander Syrskyj geht die (vermeintliche?) Offenheit doch ungewöhnlich weit. Seine Truppen, ließ der Oberbefehlshaber des ukrainischen Heers verlauten, näherten sich der taktischen Einkesselung der Stadt Bachmut an.
In der Stadt selbst dürften die Ukrainer, so das Institute for the Study of War (ISW), nur noch unbedeutende Randstücke kontrollieren, keine größeren Gebäude mehr. Auch wenn die Ukraine eine vollständige Einnahme Bachmuts durch die russischen Invasoren bestreitet. Und auch wenn das Foto, mit dem die Söldnergruppe Wagner ihren Sieg in Bachmut dokumentieren wollte, in der Nähe eines schon länger von ihr kontrollierten Bahnhofs entstand und nicht etwa in den zuletzt umkämpften Außenbezirken.
Ukrainer streben Kontrolle über Zufahrtswege an
Russische Generäle, und das wollte Syrskyj wohl erreichen, dürften jedenfalls hellhörig werden. Auch in ihren Generalstabslehrgängen hat man sich sicher mit der Schlacht von Cannae beschäftigt. Was Syrskyj angekündigt hat, läuft auf eine Wiederholung der damaligen Kriegslist Hannibals hinaus: Der punische Feldherr ließ seine Truppen anno 216 vor Christus im Zentrum des Geschehens kontrolliert nachgeben (Syrskyj heute: Bachmut nach und nach räumen), nutzte aber die Schwäche der römischen (heute: russischen) Flanken für Gegenangriffe, schloss die Römer ein und fügte ihnen verheerende Verluste zu.
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Wobei Syrskyj lediglich von einer taktischen Einkesselung spricht, also einer Kontrolle über die Zufahrtswege. Der russische Nachschub erreicht Bachmut von Süden her über zwei Straßen: die ins Stadtzentrum führende Regionalstraße T05-13 und die an der Stadt vorbeilaufende Fernstraße M03, die dann auch einige kleinere Straßen aus östlicher Richtung aufnimmt. Im Zentrum der ukrainischen Gegenangriffe steht derzeit das Dorf Klischtschijiwka im Süden von Bachmut. Vor einigen Tagen hat die ukrainische Armee hier eine russische Kommandozentrale zerstört und hohe russische Offiziere getötet. Würde sie das auf einer Anhöhe gelegene Dorf einnehmen, könnte sie die T05-13 und die parallel verlaufende Bahnstrecke blockieren.
Prigoschin kündigt Abzug an
Aber von einer „taktischen Einkesselung“ sind die Ukrainer weit entfernt Sie haben zwar Klischtschijiwka im die Zange genommen, andererseits steht die russische Armee westlich von Bachmut halbkreisförmig um einen ukrainischen Frontbogen herum.. Und ob sich so eine große Operation überhaupt lohnen würde, daran gibt es Zweifel. Bisher war Bachmut aus ukrainischer Sicht nicht so wichtig, dass auch nur eine der für die lange angekündigte Großoffensive aufgestellten zwölf (oder mehr?) Brigaden hier eingesetzt worden wäre. Nach wie vor handelt es sich also um eine rein lokale Operation.
Erhöht wird der Druck auf die russischen Angreifer in Bachmut aber dadurch, dass Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin seine Söldner nach den monatelangen Kämpfen bis zum 1. Juni abziehen will. Wenn er das wirklich tun sollte, würde das nahtlos in seine bisherige Propagandastrategie passen: Sich selbst die militärischen Erfolge gutschreiben und der regulären russischen Armee, der er Bachmut jetzt übergeben will, die Verantwortung für alle Probleme.
Syrskyj hat möglicherweise mehr angekündigt, als er halten kann und will. Aber das vermeintlich drohende Cannae-Szenario hat bereits etwas bewirkt: Nach ISW-Angaben wurden russischen Einheiten der 132. motorisierten Garde-Schützenbrigade bei Bachmut gesichtet. Die waren zuvor an einem anderen Frontabschnitt im Einsatz, bei Awdijiwka – einem Ort, der wegen seiner Nähe zur besetzten Millionenstadt Donezk und zu einem Verschiebebahnhof strategisch viel wichtiger ist als Bachmut.
Statt eines zweiten Cannae könnten wir somit in Bachmut – und künftig auch anderswo – eine grausame Neuinszenierung des Märchens vom Hasen und vom Igel erleben. Russland muss grundsätzlich an jedem Abschnitt der nach interner US-Schätzung gut 900 Kilometer langen Front mit ukrainischen Vorstößen rechnen – und im Zweifel seine Truppen entlang dieser langen Linie über zum Teil bedrohte Verbindungswege hin- und herhetzen. Ganz abgesehen von Vorstößen regimefeindlicher Freischärler der „Freien Russischen Legion“, zuletzt gestern im Grenzgebiet der Region Belgorod. Das verlangt von der russischen Führung heikle Entscheidungen wie jetzt: Truppen für Bachmut zu Lasten des Frontabschnitts bei Awdijiwka.