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Interview mit Martin Schulz„Es gab keine Alternative zum Verzicht“

Lesezeit 8 Minuten
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Martin Schulz, der ehemalige Vorsitzende der SPD.

Herr Schulz, wie fühlt man sich als einfacher Abgeordneter des Bundestages?

Gut. Ein sogenannter „einfacher“ Abgeordneter des Deutschen Bundestags ist ein ranghoher Politiker. Jeder einzelne Abgeordnete vertritt nach der Verfassung das gesamte deutsche Volk.

Wie geht es Ihnen? Wie gehen Sie mit dem Machtverlust um, den sie im Lauf des vergangenen Jahres erlebt haben?

Ich war am Ende in einer Sackgasse, aus der ich anders nicht mehr herausgekommen wäre. In solchen Situationen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man verstrickt sich weiter oder man zieht die Konsequenzen. Es gab keine Alternative zum Verzicht. Deshalb kann ich mit meinen Entscheidungen und ihren Folgen gut leben.

Die Union hat gerade gegen den Willen Angela Merkels Fraktionschef Volker Kauder abgewählt und Ralph Brinkhaus zum Nachfolger gemacht. Was bedeutet das für die Bundeskanzlerin?

Frau Merkel hat die Wahl von Herrn Brinkhaus als ihre eigene Niederlage bezeichnet. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wie viel Stabilität trauen Sie jetzt der Bundesregierung noch zu?

Wenn sie endlich dazu käme den exzellenten Koalitionsvertrag umzusetzen statt durch die Machtkämpfe in den Unionsparteien ständig weiter geschwächt zu werden, wäre das ein gutes Signal für Deutschland und Europa.

Schmerzt es Sie selbst noch sehr, dass Sie nicht Außenminister der Großen Koalition geworden sind? Obwohl Sie doch alle Kabinettsposten der SPD ausgehandelt haben?

Ich wollte nicht Außenminister werden, um ein schickes Amt zu haben. Ich wollte das, um das Europakapitel des Koalitionsvertrages umzusetzen, um unser gemeinsames Europa voranzubringen. Dafür setze ich mich jetzt eben als Abgeordneter ein.

Welchen Schritt muss Europa jetzt machen?

Mich treibt folgender Gedanke an: Am 11. November ist der Weltkrieg 100 Jahre vorbei. Heute haben wir eine destabilisierte Türkei. Großbritannien will einen Sonderweg gehen. Russlands Ziele sind nicht klar. Der Balkan ist nicht befriedet. Vieles in Europa ist ähnlich wie vor 100 Jahren, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied.

Welchen?

Die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich hat sich in eine Erbfreundschaft verwandelt. Deutschland muss jetzt zusammen mit Frankreich die Initiative in der EU ergreifen. Ich glaube, wir sollten auf Dauer darüber nachdenken, konföderale Strukturen zwischen Deutschland und Frankreich innerhalb der EU zu schaffen. Gemeinsam können wir der Schrittmacher Europas sein.

Europa steht bislang nicht erkennbar im Fokus der Arbeit der großen Koalition.

Das ist sehr bitter – erklärt sich aber mit den permanenten Eskapaden der CSU. Vor einem Jahr haben wir gewählt. Wir haben seit März eine Regierung, jetzt haben wir September. Vor und nach der Sommerpause hat diese Koalition nicht regiert, sondern ein Drama erlebt – erst wegen der CSU und ihrer Haltung zur Flüchtlingspolitik, dann wegen der CSU und ihrer Haltung zu Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen. Europa schaut mit Kopfschütteln auf Deutschland.

„Selbst in der CSU erschrecken viele über Seehofer“

Sie haben mit CSU-Chef Horst Seehofer und Angela Merkel in den Koalitionsverhandlungen ganze Nächte zusammengesessen. Sind Sie erstaunt gewesen, dass Seehofer die gesamte Koalition jetzt mehr als einmal bis an den Abgrund gebracht hat?

Offen gestanden: Ja. Dass zwischen Merkel und Seehofer nichts mehr funktioniert, wissen wir schon lange. Dass Horst Seehofer aber so weit geht, hätte ich nie gedacht. Seehofer verhält sich so irrational, dass selbst in der CSU viele über ihn erschrecken.

Auch die SPD-Vorsitzende Nahles hatte ursprünglich einem Kompromiss zugestimmt, der vorsah, den viel kritisierten Hans-Georg Maaßen als Verfassungsschutzchef abzulösen, aber ihn zugleich zum Staatsekretär zu befördern. Wie ist es möglich, dass die SPD-Vorsitzende übersehen hat, wie sehr dies die eigene Partei, aber auch die Bevölkerung empören würde?

Das weiß ich nicht. Ich war bei der Verhandlung nicht dabei. Wichtig ist, dass Andrea Nahles in der Lage war zu sagen: „Das war ein Fehler, das korrigieren wir.“

Sind Spitzenpolitiker zu oft „im Tunnel“, also fernab der normalen Realität?

Dieses Phänomen gibt es sicher. Wenn man sich nicht die Mühe gibt, auch als Politiker weiter ein Teil der Bevölkerung zu sein, dann ist diese Gefahr groß. Die Hauptstadt ist nicht das Land. Ich sehe aber bei vielen meiner Kollegen, dass sie weiter tief verwurzelt in der Realität bleiben. Die wenige Freizeit, die ich beispielsweise habe, verbringe ich oft mit meinen alten Fußballkumpels. Das erdet einen.

Ihr Vorgänger als Parteichef, Sigmar Gabriel, rief ihnen vor der Amtsübergabe zu: „Martin, jetzt musst du den Sack Flöhe da zusammenhalten.“ Haben Sie angesichts dieser Aufgabe gelegentlich Mitleid mit Ihrer Nachfolgerin Andrea Nahles?

Ich glaube, dass eine Parteichefin oder ein Parteichef Anspruch auf Unterstützung hat – bis dann eben nach Ablauf des Mandats bewertet und neu gewählt wird. Es ist normal, als Spitzenpolitiker heftige Kritik abzubekommen. Wenn aber zwei Drittel der Kritik aus dem eigenen Lager kommen, dann fehlt mir dafür das Verständnis. Und es fehlt dann ganz logisch an Zeit, sich mit dem politischen Gegner auseinanderzusetzen.

Welchen Effekt erwarten Sie vom Ausgang der Landtagswahl in Bayern?

Das wird ein Desaster für die CSU. Das wird eine tiefe Erschütterung auslösen, die nicht nur in der CSU zu spüren sein wird.

Muss Seehofer dann gehen?

Ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung. Ich fühle mich nicht mehr in der Lage, die inneren Macht- und Führungsstrukturen der CSU zu erkennen. Ich weiß noch nicht einmal, ob die Mitglieder der CSU das selbst noch können.

So richtig desaströs wird aber vor allem das Ergebnis der SPD in Bayern.

Ich würde mich aktuell davor hüten, eine Prognose abzugeben. Ich denke das einzige, was wir zurzeit absehen können, ist, dass es für eine absolute Mehrheit der CSU nicht mehr reichen wird. Diese Situation wird besonders in den letzten Wochen vor der Wahl eine spannende Dynamik auslösen. Viele Wähler sind noch unentschlossen. Und ich werde auch persönlich dafür kämpfen, dass sie sich am Ende für die SPD entscheiden.

„Die Strategie der AfD ist der permanente Tabubruch“

Sie haben im Bundestag eine scharfe Replik auf Alexander Gauland gehalten und die AfD auf den „Misthaufen der Geschichte“ gewünscht. Glauben Sie, dass der AfD so beizukommen ist, oder besteht nicht die Gefahr, Ihnen noch mehr Wähler in die Arme zu treiben?

Die AfD hat wie alle rechtsextremen Parteien in Europa eine Strategie: die rote Linie jeden Tag ein Stück nach vorn zu schieben. Die Strategie ist der permanente Tabubruch. Alexander Gauland ist da ein Experte: Er setzt darauf, dass es irgendwann keine Gegenwehr mehr gibt. Jeder Tabubruch erfordert eine klare Antwort.

Mal angenommen, die AfD könnte sich von Nazi-Sympathisanten und Gewaltbreiten trennen – wäre sie dann eine normale demokratische Partei?

Der Rubikon ist überschritten. Diese Partei hat eine Entscheidung getroffen: die Entscheidung für ein Geschäftsmodell, das auf eine Radikalisierung der Sprache setzt und die bestehende Ordnung in der Bundesrepublik zerstören will. AfD-Politiker reduzieren in jedem zweiten Satz jedes Problem auf Migrationsfragen. Drei Begriffe kommen bei AfD-Politkern systematisch vor: Migranten sind an allem schuld, die Republik ist rot-grün-versifft und es gibt keine freie Presse, nur die Lügenpresse. Der Weg der AfD in die Radikalisierung ist vorprogrammiert – und er ist gewollt.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kommt nach seinem Besuch in Berlin an diesem Wochenende nach Köln. War es klug von der Bundesregierung, Erdogan die Ausweitung des Staatsbesuchs zu erlauben?

Erdogan ist das Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes. Ich bin der Allerletzte, der mit ihm übereinstimmen würde. Ich habe ihn sowohl öffentlich als auch im persönlichen Gespräch kritisiert. Bei einem Staatsbesuch muss und sollte man Gastfreundschaft aber auch tatsächlich gewähren. Wenn wir jetzt eine Lex Erdogan schaffen würden, wie sollen wir dann demnächst mit Donald Trump, Viktor Orban oder dem saudi-arabischen König umgehen? Diplomatie muss Diplomatie bleiben.

Sie stammen aus der Bergbaustadt Würselen. Im Braunkohle-Streit steht die SPD klar an der Seite von RWE. Sie auch?

Ich habe mit einer ganzen Reihe von Demonstranten gesprochen, da auch Bekannte von mir beim Protest dabei sind. Ich kann die emotionale Haltung, den Einsatz für den 12.000 Jahre alten Wald nachvollziehen. Ein Rechtsstaat aber kann nur funktionieren, wenn sich alle an das korrekte Verfahren halten. Die Entscheidung für die Rodung des Hambacher Forsts ist über fast zwei Jahrzehnte mit Genehmigungsverfahren und höchstrichterlicher Zustimmung gefallen. Wir sollten den Rechtsstaat nicht infrage stellen. Wenn wir es hier tun, wie wollen wir vermeiden, dass andere genau das an anderer Stelle tun?

Hinter Ihnen liegen turbulente eineinhalb Jahre. An welcher Stelle sagen Sie heute: „Das würde ich im Nachhinein als Spitzenkandidat komplett anders machen“?

Ich hätte auf keinen Fall den Rat annehmen dürfen, die Europapolitik nicht in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen. Viele haben gewarnt, das Europathema käme bei den SPD-Wählern nicht an. Dabei hätte ich mit meinem Herzensanliegen am besten überzeugen können. Ich hätte den Mut haben müssen, das durchzuziehen.

Sie haben jetzt mehr Zeit für den Fußball, nicht zuletzt für den 1. FC Köln, dessen Fan Sie sind.

Es ist ja bekannt, dass ich leidenschaftlicher Fan und auch Beiratsmitglied des FC bin. Und wir haben noch etwas gemeinsam: Wir stehen beide wieder auf, wenn wir mal am Boden liegen.

Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Sind Sigmar Gabriel und Sie wieder Freunde?

Wieso wieder? Wir waren Freunde und wir sind es geblieben. Es gab Irritationen im Wahlkampf und nach der Wahl. Aber wir haben uns ausgesprochen. Im Grunde geht es Gabriel genau wie mir: Wir haben beide viel verloren. Unsere Freundschaft gehört nicht dazu. Dafür ist sie uns beiden zu wichtig.

Das Gespräch führten Carsten Fiedler und Tobias Peter.