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Interview mit Jürgen Trittin„Der Atomausstieg ist richtig“

Lesezeit 7 Minuten
Erneuerbare als Schlüssel: Jürgen Trittin sieht Deutschland mit dem Ende der Atomkraft auf einem guten Weg.

Erneuerbare als Schlüssel: Jürgen Trittin sieht Deutschland mit dem Ende der Atomkraft auf einem guten Weg.

Grünen-Politiker Jürgen Trittin sieht die Energiesicherheit in Deutschland nicht gefährdet und warnt vor Plänen für eine Reserve der letzten verbliebenen Meiler.

Als der deutsche Atomausstieg nach dem russischen Angriff auf die Ukraine noch einmal infrage gestellt wurde, gehörte Grünen-Politiker Jürgen Trittin zu seinen größten Verteidigern. Der 68-jährige hatte den Ausstieg 2001 als Umweltminister der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder ausgehandelt. An diesem Samstag gehen die drei letzten Meiler Emsland, Neckarwestheim und Isar vom Netz. Warum er das Abschalten der letzten drei Meiler trotz aller Kritik für endgültig und richtig hält, erklärt Trittin im Interview mit Rena Lehmann.

Herr Trittin, nicht nur Wolfgang Kubicki von der FDP hält den Atomausstieg für einen „dramatischen Irrtum“. Könnte er recht haben?

Die FDP muss sich mal entscheiden, ob sie eigentlich regieren oder Opposition machen will. Der endgültige Atomausstieg ist richtig und notwendig. Wer Laufzeiten verlängern will, der will, dass wir uns erneut in Abhängigkeit von Russland begeben. Uran müssten wir aus Russland beziehen. Dann würde es uns ergehen wie der Slowakei und Ungarn, die in kompletter Abhängigkeit vom russischen Konzern Rosatom sind, was ihre Stromversorgung angeht.

In Lingen wird die dortige Brennelementefabrik unter russischer Beteiligung weiter fürs Ausland produzieren. Kann man da überhaupt von einem echten Atomausstieg in Deutschland sprechen?

Wir haben in Lingen weiterhin ein Problem, auch wegen der Beteiligung von Rosatom an der dortigen Brennelementefabrik. Vor allem Frankreich hat ein Interesse daran, dass die Brennelementeproduktion in Lingen aufrecht erhalten bleibt, weil es ebenfalls Uran aus Russland bezieht. Robert Habeck fordert zu Recht, den Import von Uran aus Russland im Rahmen des Sanktionsregimes endlich zu unterbinden. In Lingen sollten nicht länger Brennelemente produziert werden können.

Ist der deutsche Atomausstieg wirklich endgültig? In den USA etwa sollen neue Reaktoren entstehen.

Ich sehe das sehr gelassen. Ankündigungen höre ich seit 20 Jahren, aber neu gebaut wurde kaum etwas. Seit 20 Jahren geht die Zahl der Atomkraftwerke weltweit zurück. Von einer Renaissance der Atomkraft ist man sehr weit entfernt. Das hat einen einfachen Grund: Atomkraft ist nicht wettbewerbsfähig. Atomstrom ist vier- bis fünfmal so teuer in der Herstellung wie Wind- oder Solarstrom.

Aber die Bedeutung der Kernkraft für die Versorgungssicherheit können Sie doch nicht bestreiten?

Eine Technologie, die von der weltweit benötigten Energie keine 5 Prozent liefert, ist eine Nischentechnologie. Und das ändert sich auch perspektivisch nicht. Während weltweit 250 Gigawatt (GW) erneuerbare Kapazität zugebaut wurde, wuchs die Atomenergie global gerade um 0,4 GW. Und in Deutschland hatten wir in den vergangenen drei Monaten eben keine Versorgungskrise, im Gegenteil. Wir haben mehr produziert als verbraucht und viel exportiert. Wir hatten wieder viele Tage, an denen wir flexible Windparks abschalten mussten, damit nicht-flexible Kohlekraftwerke und Atomkraftwerke weiterlaufen konnten. Diesen Zustand müssen wir schleunigst beenden. Wir brauchen die Atomkraft nicht für die Versorgungssicherheit.

Was macht Sie da so sicher?

Fast die Hälfte unserer Stromerzeugung kommt heute aus Erneuerbaren Energien, mit steigender Tendenz. Das ist mehr als doppelt so viel wie die Atomkraft in ihren besten Zeiten geliefert hat. Wir haben den Atomausstieg doppelt überkompensiert.

Laut einer aktuellen Umfrage hält eine Mehrheit von zwei Dritteln der Bevölkerung den Atomausstieg zum jetzigen Zeitpunkt für falsch. Das beeindruckt Sie nicht?

Wir hatten bereits 2001 eine Entscheidung getroffen gemeinsam mit der Industrie und diese ist 2011 noch einmal bestätigt worden. Man wollte sich in der Energiepolitik, wo es um Investitionssicherheit für 25 Jahren und mehr geht, nicht von Wahlen und Mehrheiten abhängig machen. Wer dies nun angesichts von aktuellen Umfragen infrage stellt, macht keine kluge Industriepolitik.

Die Zeitenwende hat die Grünen dazu gebracht, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete zu befürworten. Wäre nicht auch eine energiepolitische Zeitenwende nötig gewesen, nachdem das russische Gas als Übergangsenergieträger ausfällt?

Wir haben die Lücke doch längst geschlossen. Wir haben in der Industrie 20 Prozent Gas eingespart, in den Haushalten 10 Prozent. Wir werden den Gasbedarf durch den demnächst gesetzlich vorgeschriebenen Austausch von Heizungen massiv senken. Die Strategie sieht vor, die Gasquellen zu diversifizieren und Gas bei der Wärmebereitstellung einzusparen. Beides gehört zusammen. Ich wundere mich sehr, dass diejenigen in der Regierung, deren Liebe zur Atomkraft neu entflammt ist, die gleichen sind, die nun die Wärmewende verzögern wollen.

Länder wie Finnland sind mit Atomkraft 2035 klimaneutral, Deutschland fährt seine Kohlekraftwerke hoch. Bleibt der Klimaschutz zugunsten des Atomausstiegs auf der Strecke?

Wir werden unsere gesamte Stromversorgung vor 2035 dekarbonisiert haben. Ich würde mich freuen, wenn die Finnen so schnell wären. Die Entwicklung in Finnland ist davon geprägt, dass sie einen Reaktor zusammen mit Frankreich gebaut haben, der sich zu einem Milliardengrab für die französische Atomindustrie entwickelt hat. Und dass sie nun einen anderen Reaktor nicht bauen, weil sie nicht mehr mit Russland kooperieren. Klimaschutz bedeutet doch, dass wir die Verbrenner von heute durch Elektrizität ersetzen müssen.

Und deshalb wird sehr viel mehr Strom benötigt werden …

Eben. Wenn wir 2030 80 Prozent unseres Stroms erneuerbar erzeugen wollen, dann ist das sehr viel mehr Strom als es heute wäre. Kein Atomkraftwerk der Welt, das heute in den Bau gehen würde, wäre bis dahin fertig. Also gibt es nur einen Weg, nämlich den massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien. Und den geht Deutschland nun konsequent.

Man müsste in Deutschland ja keine neuen Kernkraftwerke bauen, sondern könnte die drei verbliebenen für den Fall der Fälle in Reserve halten …

Für welchen Fall der Fälle? Wir haben doch aktuell das Problem, dass wir zu viel Strom im Netz haben. Und jetzt sollen wir das Problem noch verschärfen, indem wir russisches Uran kaufen und weiterhin Atommüll produzieren, von dem wir nicht wissen, wo wir ihn lagern sollen? Das ist bizarr und das Gegenteil von Investitionssicherheit. Das wäre politischer und wirtschaftlicher Pfusch. Und es würde den Steuerzahler Milliarden kosten, die Christian Lindner angeblich nicht hat. Hat er sie doch, dann gehören sie in die Bekämpfung der Kinderarmut.

Muss der Rückbau der letzten drei AKWs also sofort beginnen?

Am Samstag erlischt die Berechtigung zum Leistungsbetrieb der drei Kernkraftwerke unwiderruflich. Wer danach diese Anlagen wieder in Betrieb setzen möchte, muss ein komplett neues Genehmigungsverfahren auf den Weg bringen. Keine dieser Altanlagen hat auch nur den Schatten einer Chance, ein solches Genehmigungsverfahren zu überstehen. Außerdem ist es die Vereinbarung, die wir mit der Bevölkerung vor Ort und den Beschäftigten getroffen haben. Deshalb: Ja, der Rückbau sollte so schnell wie möglich beginnen. So steht es im Gesetz. Die Geschichte der Atomkraft in Deutschland ist beendet.

Die Wirtschaftsweisen haben berechnet, dass eine Laufzeitverlängerung die Strompreise um acht bis zwölf Prozent senken würde. Wie erklären Sie den Bürgern, dass Deutschland darauf verzichten kann?

Ich teile diese Berechnung nicht. Ich bin da eher beim Ökoinstitut. Aber das ist doch müßig, sich über solche Dinge zu unterhalten. Wir können alle froh sein, dass wir nicht die Strompreise zahlen müssen wie in Frankreich aufgrund des Desasters um die Atomkraft. Die waren an der Börse teilweise fast doppelt so hoch wie in Deutschland.

Werden wir jemals die Inbetriebnahme eines Atommüll-Endlagers in Deutschland erleben?

Wir brauchen auch bei der Suche nach einem Endlager in Deutschland eine Beschleunigung des Verfahrens. Wir dürfen die Geduld der Menschen nicht überstrapazieren. Es wird nach dem Ausstieg immer schwieriger werden, Menschen zu vermitteln, warum vor ihrer Haustür ein Endlager für radioaktiven Müll entstehen sollte. Es kann nicht sein, dass wir erst 2060 ein Endlager haben. Wir müssen deutlich früher eine sichere Lösung haben.

Die Grünen haben zuletzt in den Umfragen deutlich an Zustimmung verloren. Was hat Ihre Partei falsch gemacht?

Die Grünen stehen für den Umbau dieser Gesellschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit. Ein Umbau bedeutet immer, dass man an einer Stelle etwas abbaut, um an anderer Stelle etwas Neues aufzubauen. So ist es aktuell bei der Energiewende. Das löst auch Abwehrreaktionen aus. Damit muss man leider leben. Am Ende zahlt es sich aus, wenn man wie bei der Gebäudeeffizienz Kurs hält. Die Menschen wissen doch aus dem letzten Jahr, dass es sehr teuer für sie wird, wenn sie sich heute eine neue Gasheizung einbauen. Wenn wir die Klimaziele verfehlen, zahlen die nächsten Generationen einen viel höheren Preis. Bei der nächsten Bundestagswahl können wir mit klarem Kurs weiter zulegen.