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Interview mit Drogenbeauftragter„Der Lockdown verstärkt die Scham der Süchtigen“

Lesezeit 5 Minuten
Daniela Ludwig

Daniela Ludwig

  1. Daniela Ludwig (CSU) ist Drogenbeauftragte der Bundesregierung.
  2. Über die Situation für Suchtkranke in der Corona-Krise und die Folgen des Lockdown hat Kerstin Münstermann in Berlin mit ihr gesprochen.

Frau Ludwig, wird es in der Drogenpolitik ein Umdenken geben müssen: Vor und nach der Pandemie?Ludwig: Durch die Krise ist vielen klargeworden, dass zu den vielen verletzbaren Gruppen in der Gesellschaft auch die Suchtkranken gehören. Viele schämen sich ihrer Sucht, drohen, auch ohne Pandemie zu vereinsamen. Der Lockdown und seine Folgen verstärken dies. Für viele Suchterkrankte war das der „worst case“, der schlimmste Fall. Wir mussten zu Beginn der Pandemie auch dagegen halten, dass man Rehakliniken, die etwa für Entzüge zuständig sind, frei räumt. Ich kann nicht einen Schwerstkranken mitten in der Therapie vor die Tür setzen. Selbst wenn er das überlebt, bekommt man ihn wahrscheinlich nicht zurück in eine Therapie, weil sein Vertrauen erschüttert ist. Man kann auch Abhängige nicht bitten, einfach in vier Wochen noch einmal zu kommen. Manche Angebote leben von Treffen mit anderen, die anonymen Alkoholiker etwa. Diese Treffen digital zu veranstalten war einer Herausforderung an die Hilfesysteme. Aber sie haben diese angenommen und bestanden. Die Suchtkranken dürfen in der Pandemie nicht in Vergessenheit geraten.

Wie steht es um die Kinder in der Pandemie?

Ludwig: Wir haben mit vielen Kinder-und Jugendärzten gesprochen. Alle sagen, dass es eine schwierige Situation ist, wenn Schulen und Kitas Kinder über Wochen nicht zu Gesicht bekommen. Im ersten Lockdown waren auch Spiel- und Bolzplätze abgesperrt. Daraus hat man gelernt, nun sind sie in Begleitung Erwachsener offen. Das ist für viele Familien sehr notwendig. Ich verhehle nicht: Für mich sind die Schulschließungen der härteste Brocken in diesem erneuten Lockdown, das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen. Für alle Kinder, egal ob aus stabilen oder nicht stabilen Verhältnissen, ist diese Lage schwierig. Kinder brauchen Kinder. Und Kinder brauchen auch Lehrer und Erzieher.

Wer kümmert sich um Kinder aus suchtbelasteten Familien?

Ludwig: Diese Kinder trifft es noch härter. Wir haben die Onlineberatung in diesem Feld ausgebaut: Das Projekt ‚Kidkit‘ ist ein Angebot für Kinder mit suchtabhängigen Eltern. Es wird sehr stark nachgefragt, im Zeitraum Januar bis Oktober 2020 sind die Nutzerzahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um über 100 Prozent gestiegen. Kidkit ist auch über die Weihnachtsfeiertage erreichbar. Im Übrigen gilt die Bitte: Gebt aufeinander Acht! Es geht nicht um das Bespitzeln von Nachbarn, aber darum, Not zu erkennen. Es sollte sich jeder fragen, ob er etwas dazu beisteuern kann, dass Kinder gut durch diese Krise kommen.

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Also wäre es wichtig, ab dem 10. Januar die Schulen wieder zu öffnen?

Ludwig: Absolut. Für mich ist das unter bildungspolitischen aber vor allem sozialen Aspekten eine Hauptforderung. Und zwar nicht nur, weil die Eltern wieder arbeiten gehen sollen, sondern ich will eine Generation Corona vermeiden. Wir haben eine Verantwortung dafür, dass es wieder zu Präsenzbildung und geregelten Abläufen kommt.

Jüngst gab es Zahlen zum Internetgebrauch der Bundesgesundheitszentrale, noch erhoben vor der Corona-Pandemie Danach ist der Anteil junger Menschen mit einer als problematisch eingestuften Internet- und Computernutzung ist in Deutschland zuletzt erneut gestiegen. Wie kommentieren Sie diese?

Ludwig: Das Thema hat uns schon vor Corona stark beschäftigt, nun hat es sich weiter verschärft. Es treibt Eltern und Lehrer um. Eltern fragen sich, ob sie mehr reglementieren müsse und die Mediennutzung ihrer Kinder zu hoch ist. Meine Rückmeldung aus Suchtberatungen ist sogar, dass Kinder und Jugendliche dort anrufen und sagen, sie hätten Probleme und sich im digitalen Universum irgendwie verloren. Wichtig ist das Maß. Ohne Digitalisierung lassen sich zum Beispiel die Lockdowns nicht überstehen. Natürlich können Kindern digitalen Kontakt zu ihren Freunden halten. Aber ich lasse ja Kinder auch nicht ohne Schwimmkurse ins Wasser. Sie brauchen eine gewisse Anleitung, was ist gut und was ist zu viel. Ich kann Eltern nur ermuntern, technische Möglichkeiten zu nutzen und klare Regeln aufzustellen. Etwa Abendessen ohne digitale Geräte oder feste Zeiten für die Nutzung. Und sie sollten auch selbst ein Vorbild sein und nicht dauernd auf das Handy starren.

Gefühlt ist der Alkoholkonsum in der Pandemie gestiegen – stellen Sie das auch fest?

Ludwig: Wir haben noch keine validen Ergebnisse, die Studien laufen noch. Die Verkaufszahlen, also wie viel Alkohol verkauft wurde an der Supermarktkasse, sind gestiegen. Das lässt aber noch keine Rückschlüsse auf den Konsum zu. In Umfragen geben Menschen an, dass sie glauben, mehr getrunken zu haben in der Pandemie. Das werden wichtige Ergebnisse sein, wenn es valide Zahlen gibt.

Gibt es eine neue Einstellung zum Rauchen durch die Gefahren von Corona?

Ludwig: Immer weniger Jugendliche und Kinder beginnen mit dem Rauchen. Ob sich das auch auf Erwachsene in der Krise ausgeweitet hat, wissen wir noch nicht. Klar ist: Wer raucht, ist anfälliger für einen schweren Covid-19-Verlauf. Dieser Zusammenhang ist belegt. Ich würde mir sehr wünschen, dass angesichts der Krise viele Raucher beginnen, ihre Sucht zu hinterfragen.

Keine Clubs, keine Parties - hat der Drogenkonsum insgesamt nachgelassen?

Ludwig: Nein, weniger Drogenkonsum gibt es leider nicht. Hinter der Drogenkriminalität stecken organisierte, mafiöse Strukturen. Die Drogen kommen jetzt nicht mehr per Flugzeug, sondern verstärkt über Schiffe ins Land, auch der Internethandel hat zugenommen. Hier können wir leider keine Entwarnung geben.

Hat sich die Wahrnehmung von Sucht geändert?

Ludwig: Ich hoffe das. Als ich mein Amt angetreten habe, war mir klar, dass man das Thema aus der Ecke herausholen muss, wo es viele gerne hindrängen wollen, damit sie damit nichts zu tun haben. Aber zwei legale Drogen – Alkohol und Tabak – sind mitten unter uns. Kommt die Mediennutzung noch dazu, sind es drei. Sucht ist keine Randerscheinung, sie findet täglich statt. Es gibt keinen Grund, Süchtige auszugrenzen. Die Entwöhnung muss noch viel selbstverständlicher Platz haben in unserer Mitte. Es kann jeden treffen.