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Interview mit Annalena Baerbock„Putin ist einsam und isoliert wie nie“

Lesezeit 8 Minuten

Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock 

Wladimir Putins Drohungen mit dem Einsatz einer Atombombe müssten „sehr ernst“ genommen werden, die Lage sei „unberechenbar“, und sie spüre bei vielen Menschen „die große Sorge, dass der Krieg nach Deutschland kommen könnte“, sagt Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Interview mit Tobias Schmidt. Aber es gebe trotz allem auch Zeichen der Hoffnung: den Mut der Ukrainer, die Geschlossenheit Europas, und die zunehmende Isolierung Putins in der Welt.

Frau Baerbock, Russlands Präsident Wladimir Putin hat die von Russland eroberten Gebiete in der Ostukraine annektiert. Sind die Gebiete damit für die Ukraine verloren?

Nein, sie gehören natürlich weiterhin zum Staatsgebiet der Ukraine. Annexionen verstoßen gegen Völkerrecht. Sie sind damit null und nichtig. Das hat auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen sofort klargemacht.

Wenn Deutschland keine Kampf- und Schützenpanzer liefert, wie soll der Ukraine eine Rückeroberung gelingen?

Erst mal ist festzuhalten: Mit den Scheinreferenden verhöhnt Putin nicht nur die Tausenden Menschen, die vor Ort so furchtbar unter der russischen Besatzung leiden. Er verhöhnt auch die Charta der Vereinten Nationen. Deswegen wird auch kaum ein anderes Land diese Annexion anerkennen – was wichtig ist für den Zusammenhalt der Ukraine und woran ich als Außenministerin mit vielen Kolleginnen und Kollegen daher intensiv arbeite. Zugleich – ja – braucht die Ukraine auch weiterhin schwere Waffen, damit sie die Gebiete und die Menschen dort von der russischen Besatzung befreien kann. Daher unterstützen wir die Ukraine militärisch weiterhin.

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Putin rekrutiert zusätzliche 300000 Soldaten, aber das dauert. Müsste nicht gerade jetzt maximale Militärhilfe kommen, um diese knappe Zeit zu nutzen?

Diese Hilfe kommt ja. Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten modernstes Material geliefert und liefern weiter. Denn wir sehen, was für einen Unterschied das macht. Eines der neuesten und besten Luftabwehrsysteme, Iris-T, wird dieser Tage in der Ukraine eintreffen. Drei weitere folgen. Auch verschiedene Panzertypen aus Deutschland sind in der Ukraine bereits im Einsatz, zum Beispiel Flugabwehrpanzer Gepard und Panzerhaubitzen 2000, und über den Ringtausch gehen auch Schützenpanzer in die Ukraine. Zugleich überprüfen wir ständig, was wir mehr tun können.

Aber keine Leoparden, keine Marder. „Keine Alleingänge“, heißt es immer. Sie wissen, dass die Franzosen nicht wollen und die USA rund zwei Drittel der Unterstützung leisten. Ist es nicht ein historisches Versagen Deutschlands, jetzt nicht alles zu geben?

Ich habe im letzten halben Jahr dieses furchtbaren russischen Angriffskriegs ja auch immer wieder selbstkritisch reflektiert, ob wir schnell genug liefern. Aber zugleich dürfen wir nicht ausblenden, dass wir in einer unberechenbaren Situation sind, weil der russische Präsident mit jeder zwischenstaatlichen, politischen, aber auch menschlichen Regel bricht. Deswegen ja: Wir stehen an einem entscheidenden Moment der Weltgeschichte. Wir müssen im Licht der Situation immer wieder schauen, was wir noch liefern können, um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und damit die internationale Friedensordnung zu verteidigen. Aber unsere militärischen Mittel sind begrenzt, und es wäre vermessen zu glauben, Deutschland könnte den Kriegsverlauf im Alleingang ändern. Das können wir nur gemeinsam mit unseren internationalen Partnern.

Kanzler Olaf Scholz sagt: Die Panzer-Debatte sei eine deutsche Debatte. Stimmt das?

Was, glaube ich, etwas anders ist als in anderen Ländern, ist, dass – vor allem im politisch-medialen Raum – über unterschiedliche Panzergattungen wie Marder, Gepard, Leo diskutiert wird. Unterschiede und Begriffe, die vorher kaum einer kannte. Sie verdeutlichen, wie auch viele meiner Gespräche und auch die Umfragen, wie groß bei den Menschen in unserem Land der Wunsch ist, der Ukraine weiter beizustehen. Daran haben auch die steigenden Energiepreise nichts geändert, das zeigt, wie viel Solidarität und Empathie in unserem Land herrscht. Gerade ältere Menschen wissen noch, was Krieg bedeutet. Menschen aus Ostdeutschland kennen das furchtbare Gefühl gefälschter Wahlen. Zugleich spüre ich bei vielen Menschen aber auch die große Sorge, dass der Krieg nach Deutschland kommen könnte. Das auszuschließen und der Ukraine maximal zu helfen – das ist unsere große Verantwortung, die wir nur geschlossen als Bundesregierung und mit unseren internationalen Partnern stemmen können.

Moskau droht mit der Atombombe. Ist die Angst davor der Grund für die deutsche Zurückhaltung?

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, erst recht, wenn unser Gegenüber mit allen Regeln bricht. Deswegen wägen wir jeden Schritt vorsichtig ab, sind uns zugleich der immensen Verantwortung bewusst, dass Nichthandeln zu noch mehr Leid führen würde. Wenn Russland mit Landraub und Erpressung durchkommt und diesen Krieg gewänne – also die Ukraine vernichtet –, läge nicht nur die europäische Friedensordnung in Trümmern, sondern kein kleines Land wäre mehr sicher.

Trauen Sie Putin denn zu, tatsächlich eine Atombombe abzuwerfen?

In den nun schon mehr als 220 Kriegstagen hat Putin immer wieder gezeigt, dass er vor schlimmsten Kriegsverbrechen nicht zurückschreckt. Er macht vor Krankenhäusern und Kindern nicht halt und ist sogar bereit, sein eigenes Land zu ruinieren. Wir nehmen seine Worte sehr ernst, alles andere wäre fahrlässig. Allerdings hat Putin schon zuvor unverantwortliche Drohungen ausgesprochen, und er weiß, dass kein Land der Welt – auch nicht diejenigen, die sich wie China bisher nicht klar positionieren – bei dieser Frage ein Zündeln einfach so akzeptieren würde. Auf Erpressung dürfen und werden wir uns nicht einlassen, das würde Putin als Einladung zu weiterer Eskalation verstehen. Er hat klargemacht, dass sein imperialer Wahn sich nicht auf die Ukraine beschränkt. Deshalb setzen wir unsere Unterstützung für die Ukraine verantwortungsvoll fort.

Wenn Putin die Truppenverstärkung hinbekommt, kann der Krieg noch lange dauern …

Putins brutaler Plan, die Ukraine zu überrennen, ist bisher nicht aufgegangen, und wir setzen alles daran, dass er auch künftig nicht aufgeht. Kaum ein Land weltweit stellt sich noch hinter Putin, zu Hunderttausenden fliehen junge Russen aus dem Land. Der russische Präsident ist so einsam und isoliert wie noch nie. Und er trägt ganz allein die Verantwortung für jeden Tag dieses furchtbaren Krieges. Dagegen steht der bewegende Mut der Ukraine, ihr Land und damit die internationale Friedensordnung zu verteidigen. Und dagegen steht die Geschlossenheit Europas. Das gibt Hoffnung.

Wann wird dann über Frieden verhandelt?

Jeden Tag versuchen wir es. Jeden Tag seit dem 24. Februar bekniet einer der über 190 Staaten der Welt oder eine internationale Organisation im Auftrag der Weltgemeinschaft den russischen Präsidenten, das Bomben einzustellen. Menschen Fluchtkorridore zu ermöglichen. Kinder nicht zu verschleppen. Und die einzige Antwort des russischen Präsidenten sind weitere Gräueltaten. Wie es derzeit um seine Verhandlungsbereitschaft steht, hat Putin in seiner Rede vom Freitag leider sehr klargemacht. Sein Verhandlungsangebot lautete in etwa: „Wir rauben euer Land, unterwerfen eure Bürgerinnen und Bürger, und ihr dürft das dann unterschreiben.“ Das ist das Gegenteil von Frieden. Das ist Terror und Unfreiheit. Dieser Angriffskrieg ist zu Ende – sofort –, wenn der Angreifer Russland aufhört, die Ukraine zu vernichten. Wenn allerdings die Ukraine aufhören würde, sich zu verteidigen, dann wäre die Ukraine am Ende, und die furchtbaren Verbrechen gegen die Menschen wären Alltag auch in Kiew. Das muss jedem klar sein, der fordert, wir sollten die Ukraine nicht mehr unterstützen oder Putin nachgeben. Putin hat ohne Grund sein Nachbarland angegriffen, Millionen in furchtbares Leid versetzt, die Welt aus den Fugen gehebelt – er muss diesen Krieg beenden.

Abertausende Russen versuchen gerade, aus ihrem Land zu fliehen, um nicht in den Krieg geschickt zu werden. Aber Finnland und das Baltikum haben ihre Grenzen geschlossen. Wird Deutschland den Deserteuren helfen?

Diejenigen Russen, die sich mutig gegen diesen Krieg stellen, wollen wir nicht alleinlassen. Deswegen haben wir sehr schnell entschieden, Visa für politisch besonders verfolgte Journalistinnen, Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten zu vergeben, um sie in Sicherheit zu bringen. Und natürlich gilt das Recht auf Asyl.

Also nein?

Die Welt ist nicht so einfach, wie man sie sich wünscht. Die baltischen Staaten und Finnland sind noch sehr viel direkter betroffen, als wir es sind. Wir sind gut beraten, ihre Warnungen und Sorgen ernst zu nehmen. Russland versucht mit allen Mitteln des hybriden Kriegs, uns zu spalten. Wir können daher nicht einfach sagen: Wir holen Hunderttausende Kriegsdienstverweigerer aus Russland raus, und die sollen alle über die baltische oder finnische Grenze. Das geht schon praktisch nicht, aber eben auch aus Sicherheitsgründen. Darum müssen wir bei jedem Schritt die Folgen gut durchdenken, und zwar gemeinsam mit unseren europäischen Partnern. Dass Hunderttausende Russen gerade aus ihrem Land zu fliehen versuchen, zeigt, dass der jungen Generation bewusst wird, welche fatalen Folgen dieser Krieg für ihr eigenes Leben und ihre Gesellschaft hat. Putin ist dabei, sein eigenes Land zu ruinieren.

Die Geflüchteten aus der Ukraine werden bewundernswert aufgenommen. Nun steigt auch die Zahl der Menschen, die über die Balkanroute zu uns gelangen wollen. Was steckt dahinter?

Zunächst: Ich bin in diesen Tagen dankbar, Außenministerin eines Landes sein zu dürfen, das über 465000 Frauen und 350000 Kindern aus der Ukraine seine Wohnzimmer, seine Schulen, seine Betriebe, seine Krankenhäuser geöffnet hat. Das ist für mich Heimat Europa, und es ist nicht „nur“ Solidarität. Es ist in unserem puren eigenen Sicherheitsinteresse, uns dem Krieg entgegenzustellen – vereint in Europa und in unserem Land, statt uns von Putin spalten zu lassen. Auch wenn das – darum muss man nicht herumreden – eine gewaltige Herausforderung ist. Was Geflüchtete aus anderen Ländern angeht: Dass viele Afghanen nach Europa fliehen, liegt daran, dass die Taliban das Land brutal unter Kontrolle gebracht haben und es Frauen unmöglich machen, ihr Leben zu leben, zur Schule oder zur Arbeit zu gehen. Und auch der Krieg in Syrien veranlasst weiter viele Menschen zur Flucht. Sie alle haben nur einen Wunsch – so wie wir: dass ihre Kinder in Sicherheit leben können.