„Ich muss da sein“Ukrainer reisen zum Kämpfen in ihr Heimatland
Hannover – Svitlana Khadvova sitzt ein wenig verloren da zwischen den örtlichen Alkoholkranken und der Polizeihundertschaft. Die 70-Jährige ist sehr früh dran. Ihre Habseligkeiten passen in eine Tüte, einen kleinen Koffer und eine Handtasche. Auf der Anzeigetafel hier am Busbahnhof von Hannover ist ein Fernbus Richtung Kiew in der Ukraine angeschlagen.An diesem Samstagmorgen machen die Bilder eines Kiewer Hochhauses in sozialen Netzwerken die Runde, in das eine russische Rakete eingeschlagen sein soll. Mehrere Stockwerke wurden komplett zerstört. Die Hauptstadt ist im Belagerungszustand, heftige Kämpfe werden auch aus der zweitgrößten Stadt Charkiw gemeldet. Das ukrainische Militär sprengt Brücken, um den russischen Vormarsch auszubremsen.
„Mein Sohn lebt in Kiew. Ich muss da sein“
Die Kiewer verstecken sich in den U-Bahn-Stationen vor Bomben und Raketen. Und doch will Khadvova genau in diese Stadt. „Mein Sohn lebt in Kiew. Ich muss da sein“, sagt die frühere Lehrerin und ballt die Fäuste. Für sie steht das außer Frage. Die Sorge um die Familie ist stärker als die Angst vor dem Krieg.
Ihr Vater, erzählt sie, um die Sinnlosigkeit des Krieges zu verdeutlichen, sei Russe, ihre Mutter Lettin, und sie selbst Ukrainerin. „Stolze Ukrainerin“, schiebt Khadvova hinterher. Ihr Deutsch ist ein wenig eingerostet. Sie bedient sich beim Dichter Heinrich Heine, um ihre Gefühle zu verdeutlichen, sie kennt die Zeilen auswendig: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin…“
Was sie erwartet, weiß niemand
Seit 7 Uhr ist der quietschgelbe Fernbus an diesem Samstagmorgen unterwegs. Hannover, wo Khadvova zusteigt, ist der siebte Stopp. Am Bussteig liegen sich zwei Schwestern weinend in den Armen. Die eine kehrt zurück zur Familie in der Ukraine, die andere bleibt in Deutschland. Drei Fahrer und sieben Passagiere fahren ab. Wie weit der Bus kommt, was sie erwartet, weiß niemand. Vielleicht endet die Fahrt an der polnisch-ukrainischen Grenze.
Vielleicht geht es noch ein Stück weiter bis Lemberg (Lviv). Bis Kiew wären es dann immer noch einige Hundert Kilometer. Die Hauptstadt ist von russischen Einheiten umzingelt. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. „Erst einmal zur Grenze. Dann schauen wir weiter“, sagt ein Familienvater. Daheim in der Ukraine warten seine vier Jahre alte Tochter und sein fünf Jahre alter Sohn auf ihn. Und vielleicht das Militär. „Wenn es sein muss, werde ich auch kämpfen.“
„Niemand weiß, was morgen bringt“
Es ist still an Bord. Manchmal klingelt ein Telefon. Es sind Anrufe aus der Ukraine. Ob der Bus fahre, wie weit sie schon seien und so weiter. Im Laufe des kommenden Tages wird die Reisegruppe wohl Ost-Polen erreichen. Und dann? Auch aus grenznahen ukrainischen Großstädten werden Kämpfe gemeldet. Wer nicht telefoniert, verfolgt die Nachrichten aus der Heimat, liest über das zerstörte Hochhaus in Kiew, schaut grausige Videos, die in sozialen Netzwerken kursieren und getötete Soldaten und Zivilisten zeigen.
„Niemand weiß, was morgen bringt“, sagt Dmytro, der ganz hinten im Bus sitzt. Eigentlich wollte er im Sommer seinen Uni-Abschluss in der Ukraine machen. In Deutschland war er zum Arbeiten, erzählt er. Am Telefon erfuhr der 22-Jährige vom Krieg in seiner Heimat. „Ein Freund aus der Ukraine hat mich wachgeklingelt und mir gesagt, dass die Russen angreifen. Ich dachte erst, es wäre ein Scherz.“
Eine Reise ohne Rückkehroption
Nun sitzt er im Bus Richtung Heimat. Sein Ziel ist Zaporizhzhya, eine Großstadt in unmittelbarer Nähe der russischen Invasionstruppen. Für den jungen Mann ist die Busfahrt eine Reise ohne Rückkehroption; zumindest vorläufig. Volljährige Männer, so heißt es, dürfen die Ukraine derzeit nicht mehr verlassen. Dmytro weiß darum. Vielleicht wird er eingezogen, um gegen Putins Soldaten zu kämpfen.
In Deutschland könnte er problemlos noch einige Wochen bleiben. Trotzdem will er zurück in die Heimat, die jetzt Kriegsgebiet ist. „Meine Mutter und mein Vater sind doch da“, sagt er, der Vater sei gebürtiger Russe. Ob der Krieg noch lange dauern werde? Dmytro ist es wichtig, dass Folgendes ganz genau verstanden wird, und so tippt er es in die Übersetzungsapp seines Handys: „Unsere Leute werden bis zum Ende gehen. Das hat der Maidan 2014 gezeigt.“
Er meint den Aufstand gegen die korrupten Eliten in Kiew in den Jahren 2013 und 2014. Kurz darauf annektierte Russland die Krim und destabilisierte östliche Landesteile der Ukraine. Es waren die Vorboten der jetzigen Invasion und des großangelegten Krieges. Kilometer um Kilometer nähert sich der gelbe Bus den Frontlinien. Auf dem Rückweg soll er Flüchtlinge mitnehmen, heißt es vom Unternehmen. Draußen an den Fenstern des Busses zieht der deutsche Alltag vorbei. Die Ukraine scheint so weit weg.