Auf pro-palästinensischen Demonstrationen kam es in dieser Woche immer wieder zu antisemitischen Äußerungen. In Berlin wurde eine jüdische Synagoge attackiert. Und die Ampel-Koalition ringt um eine neue Migrationspolitik. Rena Lehmann traf Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang zum Interview über diese Themen im Bundestag.
Grünen-Chefin im InterviewDulden wir Antisemitismus auf deutschen Straßen, Frau Lang?
Frau Lang, Bundeskanzler Olaf Scholz ist nur wenige Tage nach dem Überfall der Hamas nach Israel gereist. Was konnte er erreichen?
Sein Besuch war ein wichtiges Zeichen unserer unverbrüchlichen Solidarität mit Israel. Es drückt aus: Schutz und Sicherheit Israels sind für uns Staatsräson. Wir müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass Israel kein Staat ist wie jeder andere. Er ist entstanden als Konsequenz aus den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, aus dem industrialisierten Massenmord an Jüdinnen und Juden. Als Schutzraum. Und dieser Schutzraum wird jetzt von der Hamas angegriffen. Die Hamas greift die Existenz Israels an. „Nie wieder“ heißt für uns, jetzt an der Seite Israels zu stehen.
Was bedeutet es konkret, dass Israels Existenzrecht deutsche Staatsräson ist?
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Dass wir klar an der Seite Israels stehen, uns also diplomatisch einsetzen, wie es Annalena Baerbock und Olaf Scholz in dieser Woche getan haben, aber auch wenn es um Geld oder Waffen geht. Zu den diplomatischen Bemühungen gehört natürlich auch, auf die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza hinzuweisen. Und mit Blick auf Deutschland heißt es, nicht wegzuschauen, wenn hier auf deutschen Straßen Antisemitismus gefeiert wird.
Das findet aber trotzdem statt. Wird es also geduldet?
Es ist kein neues Phänomen. Antisemitische Straftaten haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Es ist eine dauerhafte Aufgabe, der wir vielleicht nicht genügend gerecht geworden sind. Es ist gut, dass wir jetzt schon den Schutz jüdischer Einrichtungen verstärkt haben. Wenn es bei Demonstrationen zu Volksverhetzung und antisemitischer Propaganda kommt, muss die Polizei entschieden eingreifen. Wir sind ein wehrhafter Rechtsstaat. Wir müssen seine Instrumente konsequent nutzen. Außerdem brauchen wir ein gesellschaftliches Bündnis gegen Antisemitismus. Sportvereine, Un-ternehmerverbände, Gewerkschaften und Kirchen müssen gemeinsam aufstehen.
Wären für ein solches Bündnis aber nicht auch Moscheevereine und Islamverbände hilfreich?
Ja. Ich hätte mir ein klareres Statement vonseiten der Islamverbände gewünscht. Es gibt viele Stimmen aus der islamischen Community, die sich klar gegen die Hamas positioniert haben. Dafür, dass es zum Beispiel vom Zentralrat der Muslime eine eher zurückhaltende Einordnung gab, habe ich kein Verständnis. Denn natürlich haben die Verbände eine Verantwortung, Antisemitismus entgegen zu treten. Gleichzeitig sollten wir uns davor hüten, alle Muslime unter Generalverdacht zu stellen. Viele Muslime in Deutschland verurteilen den Hamas-Terror ebenfalls.
Sollte es Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus haben, wenn sich jemand antisemitisch äußert?
Der Rechtsstaat ist handlungsfähig, er hat die Instrumente, die er braucht, in der Hand. Jetzt geht es darum, sie konsequent anzuwenden. Unsere Sicherheitsbehörden machen hier gerade einen tollen Job. Wenn es bei einer Demonstration zu antisemitischen Äußerungen kommt, kann die Versammlung aufgelöst werden. Wenn eine Person straffällig wird, die zum Beispiel keinen dauerhaften Aufenthaltstitel hat, gibt es die Möglichkeit der Ausweisung. Viele der Menschen, die jetzt demonstrieren, leben aber in der zweiten, dritten oder vierten Generation hier. Das sind deutsche Staatsbürger. Das heißt, wir dürfen es uns in der Debatte nicht zu leicht machen. Wir müssen innenpolitische Härte zeigen, aber gleichzeitig bei der Integration vorankommen. Das Ziel muss doch sein, mit allen Menschen in diesem Land einen Konsens zu finden, dass Antisemitismus und Islamismus hier keinen Platz haben. Wir müssen uns genau ansehen, wie das Thema eigentlich in den Schulen vermittelt wird. Wer nimmt eigentlich Teil an unserer Erinnerungskultur? Das ist keine einfache Aufgabe, aber es muss der Anspruch von Politik und auch der Anspruch von uns als Gesellschaft sein, dass das besser gelingt.
Ein anderes Thema ist die Migrationsdebatte. Haben die Grünen einen Vorschlag zur Eindämmung irregulärer Migration?
In erster Linie würde es helfen, bestehende Regeln auch anzuwenden. Wichtig ist zum Beispiel, dass die Registrierung an den Außengrenzen sichergestellt ist. Nur so kann Verteilung funktionieren, aber auch eine vernünftige Versorgung der Menschen. Unter anderem deswegen verhandeln wir ja auf europäischer Ebene gerade über eine Reform des Asylsystems. Wichtig: Humanität und Ordnung gehören zusammen. Denn natürlich gibt es legitime Fluchtgründe. Wer vor Krieg und Terror flieht, wer Schutz braucht, muss ihn bekommen. Darüber hinaus arbeiten wir weiter daran, die Kommunen konkret zu entlasten. Dazu gehören dauerhafte Finanzierungszusagen vom Bund für die Kommunen. Wir wollen in dieser Regierung Anwälte der Kommunen sein.
Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, sagt: „Wenn wir im Namen der Humanität die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft auf Dauer massiv überfordern, werden wir die Akzeptanz verlieren. Das Ergebnis wäre nicht mehr, sondern weniger Humanität.“ Sehen Sie das auch so?
Humanität braucht Ordnung, denn nur dort, wo es geordnete Verfahren gibt, ist eine Gesellschaft zur Humanität bereit. Indes sehen wir etwa in Italien, dass mehr Abschottung eher zu mehr Chaos führt. Ordnung braucht eben auch Humanität. Wir ringen in unserer Partei, aber das tun wir alle in der Gesellschaft. Das Thema ist für niemanden einfach.
Machen Sie mit beim „Deutschland-Pakt“ für eine neue Migrationspolitik, die Olaf Scholz im November zusammen mit der Union auf den Weg bringen will?
Wir arbeiten in der Regierung gemeinsam daran, unsere Kommunen zu entlasten und die Migration besser zu ordnen als bisher.
Würden Sie die Koalition platzen lassen, wenn es eine Obergrenze geben soll?
Ich kenne niemanden, der eine Obergrenze ernsthaft fordert, insofern stellt sich diese Frage nicht.
Was könnte die Debatte befrieden?
Sicher auch, dass wir an konkreten Lösungen für die tatsächlichen Probleme arbeiten. In Deutschland wurde jahrelang zu wenig neuer Wohnraum geschaffen, der Ausbau von Infrastruktur vernachlässigt, Schulen nicht saniert. Manche dieser Probleme werden nun deutlicher sichtbar, ihr Ursprung liegt aber nicht in der Migration. Ich verstehe jeden, der beunruhigt ist, sich um steigende Mieten und Preise sorgt. Die Bundesregierung geht diese Themen an, in dieser Woche zum Beispiel mit einem großen Paket, um die Verkehrspolitik auf Vordermann zu bringen. Wir werden Straßen schneller sanieren und den Ausbau von 4500 Kilometern Schiene beschleunigen. Als nächstes kümmern wir uns um das Thema faire Löhne mit einem Paket für mehr Tarifbindung. Also: Es bewegt sich was. Gleichzeitig haben wir einen riesigen Mangel an Fach- und Arbeitskräften. Mir scheint, diese Herausforderungen lassen sich zumindest in Teilen gemeinsam lösen. Etwa indem wir dafür sorgen, dass unsere Unternehmen ankommende Menschen schnell beschäftigen können. Wenn die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, entlastet das zugleich die Kassen.
Sie haben auch einen Dissens in der Frage der Finanzierung von Seenotrettung mit dem Kanzler. Scholz lehnt es ab, dafür staatliches Geld auszugeben. Andere Länder wie Italien machen Druck. Sind Sie sicher, dass Sie die Seenotretter im Mittelmeer mit der Ampel weiter finanziell unterstützen können?
Es gibt dazu einen Haushaltsbeschluss, dem nicht nur Grüne, SPD und FDP, sondern auch Abgeordnete aus der Union zugestimmt haben. Wir können über vieles diskutieren in der Migrationspolitik. Aber Menschen vor dem Ertrinken zu retten, ist bei uns demokratischer Grundkonsens.