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Neues Europaparlament zusammengetreten „Nur die Schultüte fehlt“

Lesezeit 5 Minuten
16.07.2024, Frankreich, Straßburg: Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (3.v.r) wird nach ihrer Wiederwahl während der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments gratuliert. Die Abgeordneten des Europaparlaments haben die Christdemokratin Metsola wieder zu ihrer Präsidentin gewählt. Foto: Philipp von Ditfurth/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Auf in eine neue Sitzungsperiode: Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (3.v.r) erhält Gratulationen nach ihrer Wiederwahl.

Mehr als einen Monat nach der Europawahl ist das neu gewählte Parlament in Straßburg zusammengetreten. Wie fühlen sich Abgeordnete, die zum ersten Mal dabei sind? Wie gehen die übrigen Fraktionen mit  denen „Rechtsaußen" um? Und was wird aus Kommissionschefin von der Leyen? 

Der Weg zu Raum G05006 ist ein Labyrinth aus langen Gängen, Brücken, Aufzügen. Die gläserne Fassade des Straßburger EU-Parlaments täuscht darüber hinweg, dass im Inneren ein Flur-Dschungel wuchert. Ganz hinten oder vorne, je nach Perspektive, im Salvador-de-Madariaga-Gebäude sitzt im fünften Stock Nela Riehl in ihrem neuen Büro. Vor ihr steht eine Flasche Wasser, aber sonst ist da bislang nur das verwechselbare Standardgerüst: Bildschirm, Schreibtisch, weiße Lampe, in der Ecke steht ein schwarzer Mülleimer. Die Umzugskartons mit den Büchern, Bildern und Ordnern sollen erst noch kommen.

„Es ist wie ein weißes Blatt Papier, das mit Leben gefüllt wird in den nächsten Wochen“, sagt Riehl, die in ihrem blauen Kleid vor der grauen Parlamentskulisse leuchtet. Die Politikerin der noch relativ jungen Partei Volt klingt aufgeregt, erwartungsvoll und ein bisschen nervös. Bis vergangenen Freitag hat sie noch als Deutsch- und Politik-Lehrerin gearbeitet. Nun gehört die Hamburgerin zu den 389 neuen Europaabgeordneten, die in dieser Straßburg-Woche vor allem deshalb auffallen, weil sie entweder verwirrt oder verzweifelt durch das Politraumschiff ziehen. „Es ist superüberwältigend“, sagt die 38-Jährige. „Aber es macht Spaß, sich reinzufuchsen.“

Im Hohen Haus Europas hat die zehnte Legislaturperiode begonnen. Und das bedeutete für die insgesamt 720 Volksvertreter, die aus 27 Ländern und rund 200 verschiedenen Parteien kommen, vor allem Formalitäten zu erledigen: Teams zusammenstellen, Mitarbeiter einarbeiten, Büros beziehen, Kollegen kennenlernen, die Stimmkarten abholen, mit der jeder Abgeordnete während der Sitzungen votiert. Volt sorgte für einen Überraschungserfolg bei den Europawahlen. Drei Deutsche und zwei Niederländer gewannen Mandate für die Kleinpartei, die sich mittlerweile der Grünen-Fraktion angeschlossen hat. Und ob es um soziale Gerechtigkeit, eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik oder ihr Steckenpferd Bildung geht – Riehl hat viel vor.

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Alles erinnere an einen Einschulungstag, „nur die Schultüte fehlt“, sagt die FDP-Parlamentarierin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, ebenfalls Neuling in Europa. Die 66-Jährige ist nach Angaben aus liberalen Fraktionskreisen die aussichtsreichste Kandidatin für den Vorsitz des neuen Verteidigungsausschusses. Die 96 deutschen Abgeordneten bilden im Parlament die größte nationale Gruppe. Viele haben ihre Familien mitgebracht, um ihnen stolz den neuen Arbeitsplatz zu zeigen, hinzu kommen zahlreiche Besuchergruppen, die für ewige Wartezeiten an den Aufzügen sorgen.

Zwei deutsche Stellvertreterinnen für Präsidentin Roberta Metsola

Zum Auftakt der Plenarwoche war am Dienstag zunächst die maltesische Konservative Roberta Metsola als Parlamentspräsidentin wiedergewählt worden. Im Anschluss bestimmten die Volksvertreter in einer geheimen Abstimmung Metsolas 14 Stellvertreter und Stellvertreterinnen. Mit Abstand die meisten Stimmen erhielt dabei die CDU-Abgeordnete Sabine Verheyen. Zudem bekam auch die SPD-Politikerin Katarina Barley die nötige Mehrheit, um zunächst für weitere zweieinhalb Jahre Vizepräsidentin zu bleiben.

Von den 14 Positionen gingen insgesamt sechs an die Sozialdemokraten, drei an die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP), zwei an die rechtskonservative EKR, zu der die Fratelli dItalia von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gehören, und je eine an die liberale Renew-Fraktion, die Grünen und die Linken. Demnach wurden Abgeordnete aller Fraktionen, mit Ausnahme der rechtspopulistischen Gruppierungen „Patrioten für Europa“ (PfE) und „Europa Souveräner Nationen“ (ESN), zu der auch die AfD zählt, gewählt.

Wie bereits 2019 verwehrten die moderaten, pro-europäischen Parteifamilien den Rechtsaußen-Kräften den Zugang zu hochrangigen Positionen – wobei es Definitionssache ist, wo rechtsaußen beginnt. Die EVP schließt eine lose Zusammenarbeit mit der EKR nicht aus, lehnt aber jede Kooperation mit den Patrioten oder den Souveränisten ab. Die Grünen und die Sozialdemokraten weigern sich dagegen, mit allen drei Fraktionen zusammenzuarbeiten.

Die entscheidende Abstimmung steht aber erst an diesem Donnerstagmittag an. Dann entscheiden die Parlamentarier, ob die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den mächtigsten Posten in der EU behält. Zuletzt sah alles nach einer absoluten Mehrheit aus. Doch am Vormittag will die Deutsche trotzdem mit einer großen Rede die letzten Unentschlossenen umwerben. „Ich will hören, was sie anbietet“, sagt auch die Volt-Abgeordnete Nela Riehl. Es werde eine Rede, „die verbindet und eint“, hieß es von Insidern hinter den Kulissen. Tatsächlich war in EVP-Kreisen Optimismus zu spüren. Nachdem die Konservativen mit ihrer Spitzenkandidatin von der Leyen als Sieger aus der Europawahl hervorgingen, sei dies nun, so hieß es, die „symbolische Schlüsselabstimmung“.

Mindestens 361 EU-Parlamentarier müssen für die amtierende Brüsseler Behördenchefin votieren. Sie hat nur einen Versuch. Man kämpfe um „jede einzelne Stimme“, war zuletzt im Lager von der Leyens zu vernehmen. Zwar kommt die traditionelle Mitte der EU-Politik, die sich aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen zusammensetzt, auf knapp 400 Sitze. Es haben jedoch bereits einige Abgeordnete angekündigt, nicht für die Deutsche stimmen zu wollen. Darum hat sie in den vergangenen Wochen nicht nur Überzeugungsarbeit bei Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen geleistet, sondern vor allem bei den Grünen, die darauf drängen, dass der „Green Deal“ der EU nicht zurückabgewickelt wird.

Fällt die Amtsinhaberin durch, droht eine handfeste politische Krise

Sollte von der Leyen im Parlament aber trotzdem durchfallen, gibt es aktuell keinen Plan B. So jedenfalls heißt es sowohl von EU-Diplomaten als auch im Kreis der EVP, die als Wahlsiegerin dann auf die Suche nach einem neuen konsensfähigen Bewerber gehen würde. Der Europäische Rat, das Gremium der 27 Staats- und Regierungschefs, müsste innerhalb eines Monats den neuen Kandidaten benennen, der danach erneut eine Mehrheit der Länder und der Parlamentarier hinter sich versammeln müsste.

Ein Machtvakuum in der EU würde, da ist sich die Mehrheit der Entscheidungsträger einig, in eine denkbar schlechte Zeit fallen. In den USA stehen die Präsidentschaftswahlen an, in der Ukraine tobt weiter ein Krieg, in Frankreich ringen die Parteien um ein Regierungsbündnis, Europas Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch und in Deutschland hat die fragile Ampel-Koalition bei der Europawahl eine Schlappe erlebt. Im EU-Parlament entscheidet sich am Donnerstag deshalb für viele Beobachter eine Schicksalsfrage: Setzt Europa mit dem Votum ein Signal der Stabilität und Kontinuität – oder stürzt die Union in eine politische Krise?