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Forschung am SchulwegWie ein Projekt in Essen die „Elterntaxis“ der Region beeinflussen könnte

Lesezeit 7 Minuten
Vor einer Schule stehen Pylonen auf der Straße. Schüler und Schülerinnen gehen zu Fuß über den Gehweg.

In Essen ist ab 7.45 Uhr das Befahren der Straße für 45 Minuten untersagt.

Für zunächst drei Monate wurde in Essen-Holsterhausen eine Straße zu den schulüblichen Hol- und Bringzeiten für den Autoverkehr gesperrt.

In Kerpen-Brüggen verunfallte vor wenigen Wochen ein Siebenjähriger. In Meckenheim-Merl ärgern sich Anwohner während der Hol-und Bringzeiten an der katholischen Grundschule über verstopfte Straßen. In Wiehl-Marienhagen sind Eltern in Sorge, weil der Platz für einen Fußweg nicht reicht, eine Sperrung aber bedeuten würde, dass auch die Kita nicht mehr mit dem Auto zu erreichen wäre.

In Alfter-Witterschlick versucht man, mit Piktogrammen auf dem Weg die Strecke zur Schule für die Kinder sicherer zu machen, in Porz-Zündorf gab es ein Preisausschreiben für Kinder, die nicht im Auto zur Schule gebracht werden, und in Köln ist die Stadt an vier Standorten dabei, den Erfolg von Schulstraßen zu testen.

Kommunen überall in der Region sind mit dem gleichen Phänomen konfrontiert. „Elterntaxi“ ist das Alarmwort, unter dem die Problematik zusammengefasst wird: Viele Kinder werden mit dem Auto zur Schule gefahren – und zwar sowohl in ländlichen Gebieten wie auch in den Städten. Zwar kann man die Sinnhaftigkeit von Autofahrten auf so kurzen Distanzen, wie Schulwege es in vielen Fällen sind, in Frage stellen, doch es geht bei Weitem nicht nur um ein ideologisches Ärgernis: Die meisten Unfälle der Sechs- bis 14-Jährigen ereigneten sich im vergangenen Jahr zwischen sieben und acht Uhr morgens, wie Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen.

Noch viel zu tun für die Forschung

Deshalb haben Eltern aus Essen jetzt ein Projekt angestoßen, das wissenschaftlich begleitet wird. Das hebt es auf eine andere Ebene als kleine Einzelmaßnahmen und könnte langfristig den Impuls geben, eine Änderung der Straßenverkehrsordnung anzuregen – auch, wenn vorher weitere Analysen notwendig sein werden, wie Mobilitätsforscher David Huber von der Universität Duisburg-Essen sagt: „Wir stehen noch am Beginn, es muss noch mehr erforscht werden. Dafür möchten wir einen Anstoß setzen, das Problem thematisieren.“

Für zunächst drei Monate wurde in Essen-Holsterhausen eine Straße zu den schulüblichen Hol- und Bringzeiten für den Autoverkehr gesperrt. Ersatzweise wurden an drei Orten Haltepunkte eingerichtet, an denen Eltern ihre Kinder aussteigen lassen können. „Wir rechnen damit, dass sich auf diese Weise der Verkehr entzerrt, weil sich nicht mehr alles auf eine Straße fokussiert“, erklärt Huber, der für die Auswertung der Maßnahme zuständig ist.

Evaluiert wird stichprobenartig, durch Beobachtung und unterstützt von Kameras. Dabei geht es zum einen um die Frage nach der Verkehrssicherheit, zum anderen darum, ob durch die Schulstraße an anderer Stelle Problemsituationen entstehen – ob eine unübersichtliche Verkehrssituation also nur räumlich verlagert wird.

Längerer Beobachtungszeitraum liefert bessere Ergebnisse

Huber hofft, dass das Projekt nach einer Laufzeit von drei Monaten um weitere drei Monate verlängert wird. Ein längerer Beobachtungszeitraum liefert bessere Ergebnisse, „denn es dauert eine Zeit, bis sich Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer auf die Änderung eingestellt haben“, erklärt er. Im Idealfall führt die Tatsache, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr bis vors Schultor fahren können, dazu, dass diese gleich ganz auf andere Mobilitätsformen umsteigen – also zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Nahverkehr kommen.

Das entspräche auch den Zielen von Be-MoVe, dem Rahmen, in den die Schulstraße in Essen-Holsterhausen aktuell eingebunden ist (siehe Infokasten). Wie schnell Veränderungen möglich sind, zeigt das Beispiel Wien: Dort gab es 2018 den Versuch einer Schulstraße. Er wurde als so erfolgreich bewertet, dass das Straßenverkehrsrecht geändert wurde und seit 2022 auf Antrag hin Straßen als Schulstraßen ausgewiesen werden können, sofern sie gewisse Voraussetzungen erfüllen – zum Beispiel nicht Strecke des Schienenverkehrs sind. In Schulstraßen gilt 30 Minuten vor Schulbeginn, teilweise auch am Ende des Unterrichtes, ein Fahrverbot für Kraftfahrzeuge. Der Mobilitätsagentur Wien zufolge erstreckt sich dieses auch auf die Anwohnerinnen und Anwohner.

Bislang gibt es das in Deutschland nur im Zusammenhang mit vereinzelten Pilotprojekten, unter anderem auch in Köln, wo an unterschiedlichen Standorten vier Schulstraßen getestet werden. Die Testphase läuft bis März 2024. Die Auswertung soll über Verkehrsmessungen erfolgen, außerdem über Rückmeldungen von Anwohnern, Schülern, Eltern und Schulpersonal.

Anwohner vom Fahrverbot betroffen

Auf Anfrage der Rundschau gibt ein Stadtsprecher einen Zwischenstand und berichtet von unterschiedlichen Beobachtungen: Einerseits seien Schülerinnen und Schüler ausgeglichener und konzentrierter, andererseits werde die eingeschränkte Erreichbarkeit der Straßen von den Anwohnern kritisch gesehen. Teilweise würde das Durchfahrtverbot auch ignoriert, wenn es nicht mit Absperrelementen durchgesetzt würde.

Das Problem: „Von dem Einfahrtsverbot können Anwohner nicht ausgenommen werden, da das Verkehrsrecht nur den Begriff des „Anliegers“ (Beschilderung „Anlieger frei“) kennt. Damit sind vereinfacht gesagt alle Menschen gemeint, die ein Anliegen in der Straße haben, darunter auch Eltern der Schüler oder Besucher“, heißt es in einer Pressemeldung der Stadt Köln.

Will man also die Autos von Schülereltern außerhalb einer Straße halten, sind automatisch Anwohner gleichfalls vom Fahrverbot betroffen. Eine Ausnahme machen die Kölner aber: „Anlieger dürfen von ihrem Grundstück, ihrer Garage oder einem Parkplatz weiterhin ausfahren.“ Die Einführung des Verkehrszeichens „Schulstraße“ sei aber keine, die seitens der Stadt getroffen werden könne; dafür sei die Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) notwendig.

Mobilitätsforscher Huber erklärt: „Die Schulstraße ist als Instrument rechtlich noch nicht verankert. Eine Änderung ist also nur durch politische Initiativen möglich.“ Es gilt also, dicke Bretter zu bohren. Deswegen hat Huber keine Sorge davor, dass andere Universitäten sich ebenfalls in diesem Bereich engagieren, sondern würde es sogar begrüßen: „Wir brauchen weitere Forschungsprojekte dazu, und wenn die Forschung sich mit dem Thema befasst, ist das in jedem Fall gut.“

Eltern finden es praktisch, ihre Kinder im Auto mitzunehmen, wenn sie selbst zur Arbeit fahren. Wenn sie ihr Kind bringen, sehen sie, dass es sicher ankommt.
David Huber, Mobilitätsforscher

Aus Sicht der Kommunen sind wissenschaftliche Untersuchungen in diesem Kontext zu begrüßen, so Volker Dick von der Stadtverwaltung Wiehl: „Seitens der Stadt Wiehl halten wir Forschungsprojekte zum Thema ‚Elterntaxis‘ für sehr hilfreich, da die empirischen Daten eine gute Argumentationsgrundlage bilden können, wenn man solche ‚ungewöhnlichen‘ Projekte umsetzen möchte. Es sind aber oft die verschiedenen örtlichen Rahmenbedingungen maßgeblich, um Erkenntnisse von Forschungsprojekten übertragen zu können. Insofern würden natürlich viele Forschungsprojekte helfen, viele unterschiedliche Konstellationen analysieren zu können. “ Zustimmung kommt auch aus Wesseling: „Wir verfolgen die verschiedenen Forschungsprojekte und Modellvorhaben wie zum Beispiel in Essen oder Bonn mit großem Interesse. Auch bei uns in Wesseling stellt die hohe Zahl an Elterntaxis zu Hol- und Bringzeiten eine Herausforderung vor den Grundschulen, aber auch Kitas dar. Unser Kommunaler Ordnungsdienst ist hier regelmäßig zu Stoßzeiten im Einsatz, kann aber nur im Rahmen der aktuell gültigen Regeln der Straßenverkehrsordnung agieren“, so Sprecherin Andrea Kanonenberg.

Kinder in entwickelteren Ländern weniger unabhängig

Forscher der schwedischen Universität Karlstadt haben 2017 Ergebnisse einer Untersuchung vorgelegt, nach welcher die veränderte Beschäftigungsquote der Mütter, allgemeiner Zeitdruck, Bequemlichkeit sowie Bildung und Einkommen der Eltern maßgeblich dazu beitragen, dass viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren, während die Entfernung keinen Einfluss auf die Autonutzung hat. Sie kommen zu der Erkenntnis, dass gerade in den entwickelten Ländern die Unabhängigkeit von Kindern zurückgeht. Der Essener Wissenschaftler David Huber sieht trotzdem eine Perspektive für den Mobilitätswandel. Nach seiner Einschätzung hängt das Mobilitätsverhalten zum großen Teil von den politischen Rahmenbedingungen ab.

Stärker als den Komfort gewichtet er zwei andere Faktoren: „Eltern finden es praktisch, ihre Kinder im Auto mitzunehmen, wenn sie selbst zur Arbeit fahren. Zusätzlich spielt Verkehrssicherheit eine Rolle: Wenn sie ihr Kind bringen, sehen sie, dass es sicher ankommt.“

Zugleich deuten die Unfallzahlen des Statistischen Bundesamtes darauf hin, dass der Hol- und Bringverkehr wesentlich dazu beiträgt, die Verkehrslage rund um Schulen weniger sicher zu machen. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, wird eine der großen Aufgaben der Verkehrsplanung sein.


„Reallabore“ für gesündere Verkehrsstrukturen

Die Schulstraße in Essen-Holsterhausen ist Teil des Forschungs- und Praxisprojektes „Be-MoVe“, das dazu dienen soll, die Verkehrsinfrastruktur der Stadt Essen, die – wie in vielen anderen Städten auch – seit Jahrzehnten am PKW- und LKW-Verkehr orientiert war, neu zu gestalten. Die Stadt hat das Ziel, bis 2035 zu erreichen, dass nur noch jeder vierte Weg in der Stadt mit dem Auto zurückgelegt wird, im Übrigen jeweils ein Viertel der Wege mit dem Fahrrad, zu Fuß oder per öffentlichem Nahverkehr.

Be-MoVe startete 2022 und soll über einen Zeitraum von drei Jahren erforschen, wie die Mobilitätswende in Essen gelingen kann. Die Schulstraße ist nur ein Baustein von vielen, die in sogenannten „Reallaboren“ in zwei Stadtteilen entwickelt und ausgewertet werden. Neben Projekten zu nachhaltiger Mobilität werden zum Beispiel auch öffentliche Plätze temporär umgestaltet, um dort die Aufenthaltsqualität zu erhöhen. Ein weiteres besonderes Augenmerk gilt der städtischen Akustik und der Frage, welchen Einfluss Klang auf die Lebensqualität und das Mobilitätsverhalten der Menschen hat. Die Bürger und Bürgerinnen sind in das Projekt unmittelbar mit eingebunden. (jot)