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Ein Jahr Ukraine-KriegSo sind die Perspektiven für das zweite Kriegsjahr

Lesezeit 5 Minuten
Das Sterben geht weiter: Frische Gräber auf einem Friedhof der schwer umkämpften Stadt Bachmut künden von den enormen zivilen Verlusten.

Das Sterben geht weiter: Frische Gräber auf einem Friedhof der schwer umkämpften Stadt Bachmut künden von den enormen zivilen Verlusten.

Russland hat seine Angriffe in der Ostukraine verstärkt. Kiew plant für das Frühjahr eine Gegenoffensive. Eine Verhandlungslösung ist nicht in Sicht. Die Aussichten sind düster.

Das Töten wird so bald nicht enden. Da gibt sich Wolfgang Richter keinen Illusionen hin. „Moskau und Kiew haben den festen Willen, den Krieg fortzusetzen“, erklärt der Oberst a.D. und Experte für Rüstungskontrolle. Kurz vor Beginn des zweiten Kriegsjahrs in der Ukraine sieht er kaum Chancen für einen Waffenstillstand oder sogar eine Friedenslösung. „Beide Seiten bereiten sich auf Großoffensiven vor“, sagt er. Aber wie wahrscheinlich ist eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld? Vor allem drei Szenarien sind denkbar:

Russischer Durchbruch

Ein russischer Durchbruch in der Ostukraine, gefolgt von einer erneuten Offensive gegen Kiew, wäre ein mögliches Szenario. Dafür spricht vor allem der Vorteil auf der Zeitachse, den die Invasionsarmee hat. In Russland „sehen wir gegenwärtig lange Züge, die mit Hunderten Waffensystemen Richtung Front rollen“, erklärt Richter. Hinzu kämen Zehntausende frische Soldaten. Die Teilmobilmachung seit dem Spätsommer zeigt Wirkung. Die russische Armee hat ihre Angriffe im Donbass bereits verstärkt. Ihre volle Einsatzbereitschaft dürften die erneuerten Kreml-Truppen Anfang März erreichen. Die westliche Unterstützung für die Ukraine mit modernen Panzern läuft dagegen erst an.

Ein weiterer Faktor ist die Masse an Material und – so unschön es klingt – an Menschen. Fachleute gehen davon aus, dass die russische Armee die Zahl ihrer Panzer, die nach schweren Verlusten von 3300 auf rund 2000 gesunken war, derzeit auf rund 4000 wieder verdoppelt und die Truppenstärke auf etwa eine halbe Million Soldaten mehr als verdreifacht. Die Ukraine kann mit einigen Hundert zusätzlichen Kampf- und Schützenpanzern rechnen, die jedoch technisch überlegen sind. Trifft die Verstärkung rechtzeitig ein, dürfte ein russischer Durchbruch kaum möglich sein. „Ich erwarte nicht, dass es an der Front so bald eine entscheidende Wende geben wird“, resümiert Richter.

Ukrainische Gegenoffensive

Das gilt dann allerdings auch für das Szenario einer ukrainischen Gegenoffensive. Die Befreiung weiterer besetzter Gebiete ist das erklärte Ziel in Kiew. Vor allem deshalb drängt Präsident Wolodymyr Selenskyj so vehement auf die Lieferung moderner westlicher Waffensysteme. Fachleute halten zwei Stoßrichtungen für erfolgversprechend. Im Norden könnte die ukrainische Armee in das Gebiet Luhansk vordringen. Die Region gilt als wichtigste Basis des Kremls in der Ostukraine. Eine Rückeroberung wäre ein schwerer Schlag für den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Das gilt auch für die zweite Variante: einen ukrainischen Vorstoß im Gebiet Saporischschja. Putin hat die Region im September ebenso illegal annektiert wie das benachbarte Cherson und die Regionen Luhansk und Donezk. Gelingt der ukrainischen Armee in Saporischschja ein Durchbruch über Melitopol bis zur Küste des Asowschen Meeres, würde Russland die Landverbindung aus dem Donbass zur Krim verlieren. Fachleute haben aber Zweifel, dass dort eine Offensive erfolgreich sein kann. „Die größere Kampfmoral auf ukrainischer Seite allein wird den Krieg sicher nicht entscheiden“, sagt Richter.

Militärisches Patt

Im Ergebnis könnte sich wieder ein militärisches Patt einstellen. „Viel spricht für einen Abnutzungskrieg mit hohen Verlusten“, prophezeit Richter. In einem solchen Szenario würden die bevorstehenden Offensiven höchstens mit kleineren Geländegewinnen enden. Beide Seiten würden in der Folge erneut versuchen, ihre Truppen mit Menschen und Material „aufzufüllen“. Das wäre aus Richters Sicht vor allem für die Ukraine ein Problem, die wesentlich weniger Reserven hat als Russland. „Die Last, Verluste auszugleichen, liegt dann immer stärker beim Westen.“ Sollte dort der Wille zum Durchhalten vorhanden sein, sind ein drittes Kriegsjahr und womöglich weitere Kriegsjahre wahrscheinlich.

Wäre es da nicht klüger, wenn der Westen die Ukraine zu Verhandlungen unter dem Motto „Frieden gegen Land“ drängen würde? Der Chef des US-Geheimdienstes CIA, William Burns, soll kürzlich mit einem solchen Vorschlag in Kiew und Moskau vorstellig geworden sein – und sich eine doppelte Abfuhr geholt haben. Putin, daran haben westliche Fachleute keine Zweifel, setzt für das zweite Kriegsjahr auf Sieg.


Der Blutzoll eines Jahres: Die Verluste im Krieg sind auf beiden Seiten Geheimsache

Wie viele Todesopfer der Angriff auf die Ukraine auf beiden Seiten bislang genau gefordert hat, darüber gibt es weder in Moskau noch in Kiew glaubwürdige Zahlen. Wie in fast allen Kriegen rechnet auch in diesem Konflikt jede Seite die eigenen Verluste klein und die des Gegners groß, um die allgemeine Kampfmoral nicht zu schwächen. Doch es gibt Schätzungen von westlichen Militärs und Experten.

Ukrainische Soldaten: Nach Regierungsangaben von Ende 2022 sollen rund 13000 Soldaten getötet worden sein. Auch Diplomaten in Kiew streuten noch im Herbst die Nachricht, dass die Verluste schmerzhaft, aber überschaubar seien. Die USA überraschten im November mit wesentlich höheren Zahlen. US-Generalstabschef Mark Milley vermutete damals, dass sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite jeweils mehr als 100000 tote und verletzte Soldaten zu beklagen seien. Norwegens Geheimdienst schätzte im Januar die Verluste auf ukrainischer Seite auch auf mehr als 100000 Tote und Verletzte.

Ukrainische Zivilisten: Die USA schätzten im November, dass seit Beginn der russischen Invasion circa 40000 Zivilisten in dem Konflikt ums Leben gekommen seien. Laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) kamen bis zum 15. Februar 2023 mindestens 8000 Zivilisten ums Leben, darunter mindestens 487 Kinder. Zudem wurden mindestens 13287 verletzte Zivilisten registriert, darunter 954 verletzte Kinder.

Russische Soldaten: Russland hatte zuletzt im September den Tod von rund 6000 Soldaten eingeräumt. Offiziell gibt es seitdem keine Zahlen mehr. Laut ukrainischem Verteidigungsministerium sind bisher 144440 russische Soldaten „eliminiert“ worden. Das britische Verteidigungsministerium geht von 40000 bis 60000 getöteten russischen Soldaten aus. Die Gesamtzahl an Toten oder Verletzten auf russischer Seite beziffert London auf 175000 bis 200000. Im Januar gab der norwegische Verteidigungschef Eirik Kristoffersen die Zahl der verwundeten oder getöteten russischen Soldaten mit rund 180000 an.

Russische Söldner: Die US-Regierung schätzt, dass der berüchtigten Söldnertruppe Wagner insgesamt 50000 Soldaten angehört haben, darunter viele Rekruten aus russischen Gefängnissen. 9000 von ihnen seien bislang getötet, weitere rund 20000 verletzt worden. Etwa die Hälfte der getöteten Männer seien seit Mitte Dezember gefallen, so der Nationale Sicherheitsrat. (cl)