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Schock nach Anschlag in Solingen„Unser Vertrauen ist erschüttert. Wir spüren in diesen Tagen Ohnmacht“

Lesezeit 6 Minuten
Solingen: Nach der Messerattacke auf dem Solinger Stadtfest haben Menschen in der Nähe des Tatortes Nachrichten sowie Blumen und Kerzen hinterlassen.

Solingen: Nach der Messerattacke auf dem Solinger Stadtfest haben Menschen in der Nähe des Tatortes Nachrichten sowie Blumen und Kerzen hinterlassen.

Nach dem Dreifachmord auf dem Festival der Vielfalt befindet sich die Stadt im Schockzustand. Wieder einmal. Es herrschen Trauer und Fassungslosigkeit, aber auch Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft.

Als die Glocken der Stadtkirche die lähmende Stille in der Solinger Altstadt durchbrechen, steht Pfarrerin Friederike Höroldt mit gefalteten Händen vor einem Meer aus Blumen und Lichtern. Daneben ist eine kleine weiße Tafel aufgebaut, auf der mit roten Lettern nur ein Wort geschrieben steht. „Warum?“ Ein Wort, das die Fassungslosigkeit einer ganzen Stadt ausdrückt. Auf dem Fronhof, nur einen Steinwurf von hier entfernt, sind am späten Freitagabend bei einem Messerangriff auf dem „Festival der Vielfalt“ zum 650-jährigen Bestehen von Solingen drei Menschen getötet und acht weitere zum Teil schwer verletzt worden.

Die Stadt ist in Schockstarre nach diesem barbarischen Terroranschlag. Jetzt hat Solingen wie 1993 wieder einen ,Ruf’, den viele mit einem Attentat verbinden
JosefNeumann, SPD-Landtagsabgeordneter

Höroldt hält einige Augenblicke inne, ehe sie sich ins Kircheninnere begibt, wo Hunderte Menschen zu einem ökumenischen Gottesdienst zusammen gekommen sind, um der Opfer dieser entsetzlichen Tat zu gedenken und irgendwie Halt zu finden in diesen wieder einmal schweren Zeiten für das gebeutelte Solingen. Erst im März hatte ein Brandanschlag in einem Solinger Wohnhaus, bei dem eine vierköpfige Familie ihr Leben verlor, bundesweit für Entsetzen gesorgt. Zudem war es im Juni in der 160 000 Einwohner zählenden Stadt im Herzen des Bergischen Landes zu einer Explosion mit einem Toten gekommen, der Anschlag könnte in Zusammenhang stehen mit der niederländischen Drogenmafia. Und nun diese Tragödie. „Die Stadt ist in Schockstarre nach diesem barbarischen Terroranschlag. Jetzt hat Solingen wie 1993 wieder einen ,Ruf’, den viele mit einem Attentat verbinden“, sagt Josef Neumann in Erinnerung an den verheerenden Brandanschlag vor 31 Jahren, bei dem fünf türkischstämmige Frauen und Mädchen ermordet wurden.

Der nordrhein-westfälische SPD-Landtagsabgeordnete zählt zu den vielen Trauergästen, die am Sonntagmorgen in die Stadtkirche gekommen sind. Die Plätze in der Kirche reichen nicht aus, um den Andrang zu bewältigen. Bis ins Foyer stehen die Menschen, viele von ihnen tragen Trauerkleidung und haben Tränen in den Augen. Seelsorger sind gekommen, um Hilfe zu leisten, wo Hilfe nötig ist. „Eigentlich“, sagt Friederike Höroldt zur Begrüßung, „wollten wir heute hier anlässlich des Stadtfestes einen bunten, ökumenischen Gottesdienst miteinander feiern. Nun ist alles anders.“ Das friedliche, fröhliche Miteinander, das noch zu Beginn des geplanten dreitägigen Festes geherrscht hatte, ist der kollektiven Bestürzung gewichen. Die „grausame Messerattacke“ habe Solingen „in eine andere Welt geschleudert“ und werde die Stadt „noch lange durchrütteln bis ins Mark“, sagt die Pfarrerin. „Unser Vertrauen ist erschüttert. Wir spüren in diesen Tagen Ohnmacht.“

Der Schoch sitzt tief: Großer Andrang beim ökumenischen Gottestdienst

Die Frage nach dem Warum treibt auch Höroldt um. „Was bist du für einer, dass du unschuldige Feiernde tötest? Was hat dich getrieben?“, fragt sie. Und auch: „Gott, wo bist du?“ In die Stille hinein fährt Höroldt fort: „Der Kummer, die Trauer, das Entsetzen, dass diese Mordtat wirklich geworden ist hier bei uns auf dem Platz vor der Kirche, all das ist so groß, so laut, so schrecklich, dass ich keine Antwort höre.“ Dass der mutmaßliche Täter, ein 26-jähriger Syrer, der offenbar schon 2023 abgeschoben werden sollte, inzwischen gefasst worden ist, sei „ein Anfang, aber noch keine Antwort“.

Derweil steht Philipp Müller auf dem Vorplatz der Kirche und erfüllt eine Interviewanfrage nach der anderen. Der Mitorganisator des Stadtfestes ist aus tieftraurigem Anlass zu einem gefragten Gesprächspartner geworden. Auch Müller steht der Schock noch ins Gesicht geschrieben. „Gestern“, sagt er „war ich komplett im Tunnel.“ Vor seinem geistigen Auge liefen die Bilder der Tragödie rauf und runter. „Ich habe miterlebt, wie Menschen wiederbelebt wurden.“ Das alles habe ihm derart zugesetzt, dass er am Tag danach versucht habe, den Schmerz „in Alkohol zu ertränken“. Inzwischen gehe es darum, irgendwie wieder zu funktionieren. „Mir gelingt es jetzt, die schrecklichen Bilder vom Fronhof auszublenden. Das ist ganz, ganz wichtig“, sagt Müller.

Ungewissheit nach der Bluttat: Veranstalter hofft auf eine „Trotzreaktion“

Doch was auch bei ihm bleibt, ist die Ungewissheit. Welche Auswirkungen das Attentat auf das Leben in Solingen haben wird? „Das weiß ich noch nicht“, gibt Philipp Müller offen zu. „In der Stadt herrscht eine bleierne Stimmung. Es ist alles ganz ruhig, eher getragen.“ Wenn der Blick irgendwann wieder nach vorne geht, hofft Müller auf eine „Trotzreaktion“ der Solinger: „Wir müssen auch Zeichen setzen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen.“ Die demokratische Struktur dürfe man sich „von solchen Attentätern nicht ruinieren und kaputt machen lassen“. Müller könne zwar auch diejenigen Menschen verstehen, „die sagen, dass sie zukünftig Angst haben, zu solchen Festen hinzugehen. Aber das Angebot muss doch für die Leute weiter geschaffen werden. Wir brauchen das doch, diese Partys.“

Das aber fühlt sich so kurz nach dem Anschlag ganz weit weg an. „Die Menschen machen sich natürlich große Sorgen, wie es weitergeht. Wir müssen zusehen, wie wir die Stadtgesellschaft zusammenhalten. Es gibt viel Trauer, es gibt aber auch viel Wut“, fasst SPD-Politiker Josef Neumann die gefährliche Gemengelage zusammen. An der Gedenkstätte vor der Stadtkirche haben Menschen auf einer Plane ihre Gedanken niedergeschrieben. „Angriff auf Frieden, auf Menschlichkeit“ ist dort zu lesen. „Das einzige, was uns zusammenhält, ist und wird immer die Liebe sein.“ Und: „Solingen hält zusammen.“ Aber auch das: „Es muss was passieren. Politik und Deutschland, wacht endlich auf.“ „Meine große Sorge ist, dass die politische Spaltung der Gesellschaft weitergehen wird. Weil das, was jetzt passiert ist, schrecklich ist und es genügend Leute gibt, die jetzt versuchen, das politisch auszunutzen“, fürchtet Neumann einen verstärkten Rechtsruck in Deutschland.

Noch kein Alltag in Sicht

Auf einmal sind selbst die banalen Dinge des Alltags nicht mehr selbstverständlich in Solingen, wo auch zwei Tage nach dem Anschlag noch gespenstische Leere in den Straßen der Altstadt herrscht. Selbst die meisten Bäcker in Tatortnähe bleiben am Sonntag geschlossen. Ein Drogeriemarkt öffnet ebenfalls nicht wie geplant, „aufgrund des tragischen Ereignisses“. „Das hier war immer mein gesicherter Weg“, sagt eine Frau, die an dem durch Polizisten abgeriegelten Fronhof mit ihrem Hund eine Runde Gassi geht. „Es ist einfach nur noch traurig“, sagt sie und fügt fast schon verzweifelt an: „Aber die Probleme sind ja nicht nur bei uns.“ Auch sie sorgt sich um das gesellschaftliche Miteinander: „Vielleicht verlieren die Menschen den Glauben bei allem, was passiert.“ Eine andere Frau ist am Sonntag nach Solingen zurückgekommen, um ihrer Trauer über die Tragödie in der ehemaligen Heimat Ausdruck zu verleihen. „Ich habe 30 Jahre hier gelebt“, sagt sie. Den Anschlag bezeichnet sie als „entsetzlich“. Dann wird ihre Stimme brüchig: „Wie kann man so auf andere Menschen losgehen? Wer macht so etwas? Was geht in diesem Menschen vor?“

In den Schock über den Dreifachmord mischt sich in Solingen aber auch Erleichterung, dass der mutmaßliche Attentäter seit Samstagabend nicht mehr frei herumläuft. „Wir sind jetzt froh, dass der mutmaßliche Täter gefasst ist, weil es ist natürlich schwer, in einer Stadt spazieren zu gehen, Kinder auf die Straße zu lassen oder einfach nur unterwegs zu sein, wenn man nicht weiß, was mit dem Täter ist. Das ist eine große Erleichterung jetzt“, sagt Sozialdemokrat Neumann, der am Freitagabend selbst auf dem Stadtfest zu Gast war.

Währenddessen laufen auf dem nahe gelegenen Graf-Wilhelm-Platz die Abbauarbeiten des Festes. Die Videowand auf der Bühne ist am Sonntag noch eingeschaltet. Es flackert eine Gedenkkerze.