Bundespräsident besorgtImmer mehr Straftaten sind politisch motiviert
Wiesbaden – Die Zahl der politisch motivierten Straftaten steigt weiter an. Das hat auch, aber nicht nur, mit der aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre in der Corona-Pandemie zu tun. Sollte sich der Trend der vergangenen Monate fortsetzen, dann dürfte die Zahl der registrierten Fälle in diesem Jahr noch über dem Niveau des Vorjahres liegen, sagt der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, am Mittwoch zu Beginn der BKA-Herbsttagung in Wiesbaden. Die Corona-Pandemie biete extremistischen Ideologien offensichtlich „weiteren Nährboden“.
Die Zahl der politisch motivierten Straftaten war im Jahr 2020 um 8,5 Prozent auf 44 692 Delikte angestiegen. Damit erreichte die politisch motivierte Kriminalität den höchsten Stand seit Einführung der Statistik im Jahr 2001. Mehr als die Hälfte der erfassten Straftaten war rechtsmotiviert. Die BKA-Herbsttagung steht diesmal unter dem Motto „Stabilität statt Spaltung: Was trägt und erträgt die Innere Sicherheit“.
Steinmeier besorgt über zunehmende Radikalisierung
Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge in Halle und der Anschlag in Hanau seien rechtsextreme Terrorakte gewesen, die Deutschland „mitten ins Herz getroffen“ hätten, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Grußwort. Sorge bereite ihm aber auch die zunehmende Radikalisierung unter Querdenkern und Corona-Leugnern. Steinmeier warnt: „Verschwörungsglaube, oft gepaart mit blankem Antisemitismus, bereitet den Boden für Angriffe auf Medien, Impfärzte und Wissenschaftler, für ein Klima der Spaltung und Hetze“.
Zwei Problemgruppen identifiziert der Gründer des Berliner Instituts für Zukunftspolitik, Daniel Dettling, den das BKA als Referenten zur „Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ eingeladen hat: Da sind die „Frusties“, Männer im Alter zwischen 35 und 50 Jahren, die „den Übergang ins Erwachsenenleben nicht erfolgreich bewältigen können“. Und die „Silver Zombies“, eine Untergruppe der Menschen über 70, die mit ihrer Rolle im Alter nicht klar kommen, sie beobachten „missbilligend den eigenen und den sozialen Verfall“.
Womöglich letzter öffentlicher Auftritt von Seehofer
Für Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der wegen der Corona-Pandemie per Video aus Berlin zugeschaltet ist, ist seine Rede bei der Tagung der letzte geplante öffentliche Auftritt in Deutschland. Seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger an der Spitze des Ministeriums gibt er zwei Aufgaben mit: Die neue Bundesregierung müsse sich mit dem zuletzt mehrfach beobachteten Phänomen des politisch motivierten Attentäters mit psychischer Vorbelastung intensiv beschäftigen. Auch bei der Bekämpfung der Herstellung und Verbreitung von Darstellungen sexueller Handlungen an Kindern sei noch viel zu tun.
Insbesondere bei den Messerattacken der vergangenen Jahre sei mehrfach zu beobachten gewesen, „dass es sich um Einzeltäter handelt und dass es sich um Personen handelt, die psychisch erkrankt sind und für schuldunfähig erklärt werden“, sagt Seehofer. Diesem Phänomen der Einzeltäterradikalisierung und der psychischen Erkrankungsmomente müsse man sich intensiver widmen - auch in Hinblick auf einen besseren Austausch von Sicherheits- und Gesundheitsbehörden.
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Ein Flüchtling aus Syrien hatte am 6. November in einem Zug unvermittelt Mitreisende mit dem Messer angegriffen und vier Männer teils schwer verletzt. Der Angreifer, dem in einem ersten Gutachten wahnhafte Vorstellungen attestiert wurden, ist in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Nach der Auswertung von Datenträgern des Mannes halten die Ermittler jedoch auch ein islamistisches Motiv für möglich.
In Würzburg hatte am 25. Juni ein Mann mit einem Messer drei Menschen getötet. Gutachter halten den Somalier für schuldunfähig. Hinweise auf ein islamistisches Motiv haben die Ermittler hier bislang nicht gefunden. Im Verfassungsschutzbericht 2020 wurden zwei Terrorakte erwähnt, bei denen eine islamistische Gesinnung als Tatmotiv vermutet wird und psychische Auffälligkeiten festgestellt wurden.
Vernetzter, veränderungswillig, digitaler und schneller müsse die Polizei werden, sagt BKA-Chef Münch. Doppelarbeit und „blinde Flecken“ wolle seine Behörde im Zusammenspiel mit den Ländern künftig verhindern. Damit das funktioniere, müsse Schluss sein mit unterschiedlichen Software-Lösungen. Das alte Motto „Jeder macht seins“ habe ausgedient. (dpa)