Der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz nimmt den Staat in die Pflicht. Er müsse seiner Verantwortung nachkommen, sagt Bischof Helmut Dieser im Gespräch mit Raimund Neuß.
Bischof Dieser im Interview„Wir können nur hoffen, dass es für Köln bald eine gute Klärung gibt“
Freiburger Missbrauchsgutachten, der schwere Missbrauchsfall Dillinger in Trier: Die Debatte über den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche eskaliert. Steht sie immer noch am Beginn, wie das Zentralkomitee der deutschen Katholiken meint?
Es ist ein bitteres, ein schweres Thema. Aber wir stehen bei der Aufklärung sicher nicht mehr am Anfang. Wir sind intensiv dran. Unsere Aufarbeitung orientiert sich nicht an der Institution, sondern an den Betroffenen. Und ich bekomme auch von Betroffenen die Rückmeldung, dass diese Arbeit wirksam ist.
Zum Fall Freiburg: Erzbischof Robert Zollitsch hat noch nach 2010 aktiv vertuscht, während er als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz vermeintlich die Aufklärung vorantrieb. Wie finden Sie das?
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Entsetzlich. Man kann nur rätseln, wie ein Mensch so verschiedene Gesichter haben kann: Öffentlich etwas einfordern, es im eigenen Verantwortungsbereich aber nicht tun. Ich bekomme das nicht zusammen. Das einzige, was man zu Gunsten von Zollitsch sagen könnte, ist, dass er schließlich auf Betroffene zugegangen ist, sie besucht hat. Aber das ändert nichts an seinem totalen Leitungsversagen.
Zollitsch, aber auch der erst kürzlich verstorbene frühere Papst Benedikt XVI., hatten die Chance, auf Gutachten über ihren Umgang mit sexualisierter Gewalt zu reagieren. Haben sie das angemessen getan?
Nein. Das war enttäuschend. Wenn man begriffen hat, was Betroffenenorientierung meint, dann bleibt das dahinter zurück. Es kann doch nicht sein, dass ich sage, ich hätte nur einen kleinen Teil zu verantworten. Wer eine Diözese leitet oder gar als Papst an der Spitze steht, kann doch nur sagen: Ja, die Institution hat als Ganze versagt. Dafür bin ich verantwortlich, und ich hätte auch die Macht gehabt, einzuschreiten. Das muss man klar sagen, sonst bleiben die Betroffenen wieder im Regen stehen.
Das gilt auch für Benedikt?
Ja. Die endlosen Schriftsätze haben sicherlich andere für ihn verfasst, aber sie waren eines ehemaligen Erzbischofs und Papstes nicht würdig.
Zur Person
Helmut Dieser, geboren 1962 in Neuwied, ist seit 2016 Bischof von Aachen. Zuvor war er im Bistum Trier tätig, zuletzt seit 2011 als Weihbischof. Seit 2022 ist er Vorsitzender der bischöflichen Fachgruppe für Fragen des sexuellen Missbrauchs und von Gewalterfahrungen, also Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Er war auch Co-Vorsitzender des Forums „Leben in gelingenden Beziehungen“ beim Synodalen Weg.
Bisher durfte nur ein deutscher Bischof, Franz-Josef Bode in Osnabrück, wegen entsprechender Fehlleistungen zurücktreten. Andere Gesuche hat der Papst nicht bewilligt. Wäre es nicht besser, wenn Bischöfe einfach gehen können wie andere auch?
Der Bischof handelt im Letzten in Gemeinschaft mit dem Papst, deshalb ist der Papst die entscheidende Stelle. Aber nach welchen Kriterien er Rücktritte annimmt oder nicht, das ist mir zu wenig transparent.. Es müsste es einen klaren Kriterienkatalog geben.
Der zurückgetretene päpstliche Kinderschutzbeauftragte Hans Zollner meint, das Thema Missbrauch stehe beim Papst einfach nicht an erster Stelle.
Das ist eine sehr scharfe und detaillierte Kritik. Ich kann nur vermuten, dass Pater Zollner mehr Hintergrundwissen hat als ich. Ich könnte und würde das nicht so sagen, aber es hat mich beeindruckt, dass Zollner es so sagt. Ich bedaure seinen Rücktritt sehr, der ja auf bittere Enttäuschung schließen lässt. Es ist nicht gut für den Papst, dass einer seiner wichtigsten Leute ihn so kritisiert, und ich kann nur hoffen, dass um den Papst herum viele Menschen sind, die darauf hinwirken, dass der Papst sein Profil da schärft.
Aber auch die Aufklärung selbst führt zu heftigen Auseinandersetzungen, im Erzbistum Köln sogar zu Meineid-Ermittlungen. Wäre da ein Neuanfang geboten?
So etwas kann überall passieren, wo Menschen zusammenarbeiten. Bestimmte Zusammenstellungen sind einfach erschöpft. Das gibt es auch in der Kirche. Das Erzbistum Köln durchlebt eine schwere Zeit, und ich weiß nicht, was wir da noch tun sollen. Wir Bischöfe haben es vor dem Papst angesprochen. Der Ball liegt beim Papst. Wir können nur hoffen, dass es für Köln bald eine gute Klärung gibt.
Matthias Katsch von der Betroffenenorganisation „Eckiger Tisch“ sagt, die Kirche habe die Aufklärungsarbeit immer noch weitgehend selbst in der Hand. Er forderte nach dem Freiburger Missbrauchsbericht erneut, die Aufklärung in staatliche Hände zu legen. Wäre das besser?
Der Staat muss hier seine Verantwortung stärker wahrnehmen. Missbrauch ist ein Thema nicht nur der Kirche, sondern der ganzen Gesellschaft. Aber wir sind die einzige gesellschaftliche Institution, die das systematisch aufklärt. Wenn man uns deswegen kritisiert, ist das nicht ganz fair.
Was könnte der Staat denn tun?
Eine staatliche Instanz kann helfen, allgemeinverbindliche Regeln und Standards zu setzen, an die sich die aufarbeitenden Institutionen halten müssen und deren Einhaltung überprüft werden kann. Damit wäre allen Institutionen bei der Bekämpfung und Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs geholfen. Wir schaffen jetzt ein neues unabhängiges Expertengremium, das unsere Arbeit begutachtet. Es ist gut, dass es für die Bistümer Unabhängige Aufarbeitungskommissionen gibt, für die die Länder ihre Vertreter benennen. Diese unabhängigen Aufarbeitungskommissionen leisten hervorragende Arbeit. Es entstehen hier Studien und Berichte, die valide Aussagen zu Strukturen und Problemen offenlegen.
In Speyer, in Berlin, vielleicht auch im Trierer Fall Edmund Dillinger gibt es Hinweise auf Täternetzwerke …
Als ich zum ersten Mal davon gehört habe, fiel mir beinahe die Kinnlade herunter. Sowohl Dillinger als auch der Aachener Priester Leonhard Meurer waren viel im Ausland unterwegs. Jetzt gibt es Hinweise – so berichten es Betroffene –, dass beide zusammengewirkt haben könnten. Näheres müsste sicherlich staatlich untersucht werden.
Dillinger und Meurer sind tot, gegen Tote wird nicht ermittelt.
Aber könnte es nicht noch lebende Mittäter geben? Wenn man ermitteln würde, könnte es ja sein, dass man auf noch bestehende Netzwerke stößt. Ich fürchte, dahinter steckt noch viel mehr an Kriminalität, als uns bisher klar geworden ist. Das können doch nicht wir oder das Bistum Trier verfolgen. Das kann man nicht unter dem Rechtsmittel der Verjährung für erledigt erklären.
Können Sie zum Fall Dillinger/Meurer Näheres sagen?
Wir haben veröffentlicht, was wir wissen. Und ich hoffe, dass sich Betroffene melden, die bisher unbekannt waren. Wir müssen die Reisetätigkeit dieser Täter untersuchen, die immer so aufgetreten sind, als seien sie im Auftrag von Hilfswerken unterwegs.
Wird ausreichend kontrolliert, was deutsche Geistliche im Ausland tun? Da gab es ja auch den früheren Adveniat-Chef Emil Stehle, der offenbar machen konnte, was er wollte.
Auch bei diesem Fall wird mir schwindlig. Es ist beschämend, dass solche Täter im Ausland offenbar eine Art Freibrief hatten. Wir bohren hier aber ein dickes Brett, denn wir werden nur in Zusammenarbeit mit den betroffenen ausländischen Bistümern weiterkommen, und da wird das Thema Aufarbeitung oft anders eingeschätzt als bei uns. Heute gehen wir allerdings mit Priestern im Auslandseinsatz anders um, auch sie müssen alle fünf Jahre ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen und regelmäßig Bericht erstatten.
Kann man nun generell davon ausgehen, dass es die früheren Schutzräume für Täter nicht mehr gibt?
Im letzten Jahrzehnt haben wir gezielt Maßnahmen ergriffen, um Vertuschung zu verhindern. Zum Beispiel die Interventionsordnung der DBK. Ein weiteres Instrument ist der „Letter of good standing“, eine Art internationales Prüfsiegel, das jeder Priester braucht, der in einem anderen Land tätig werden will. Ich hoffe, dass das auch in anderen Ländern so ernst genommen wird. In Deutschland wird für Täter immer schwieriger, eine Nische zu finden.
Was halten Sie von der französischen Idee eines Priesterausweises mit QR-Code, der Auflagen wie ein Kontaktverbot gegenüber Jugendlichen erkennen lässt?
Ich kann das verstehen, aber ich warne davor. Denn das reduziert das Problem auf die Gestalt des Priesters. Ich warne nicht deswegen davor, weil das für die Kirche nicht gut wäre, sondern weil sich die Gesellschaft dann darauf ausruhen kann. Alle anderen Täter bleiben dann im Schatten.
Bisher stehen freiwillig gewährte Anerkennungsleistungen für die Opfer im Vordergrund, Gerichtsverfahren um Schadenersatz sind oft schon an der Verjährung gescheitert. Jetzt haben die Erzbistümer Köln und München auf die Einrede der Verjährung verzichtet. Kommen andere Bistümer überhaupt dahinter zurück?
Das sind Einzelfallentscheidungen. Und ich kann in meiner Rolle als Vorsitzender der entsprechenden Fachgruppe der Bischofskonferenz niemanden binden. Jeder Bischof muss das mit seinen Fachgremien selbst entscheiden.Ein wesentlicher Grund für die Installierung des Anerkennungsverfahrens war, dass den Betroffenen die Belastungen, die Retraumatisierungen und Kosten, die mit der Durchführung von Zivilrechtsklagen üblicher Weise verbunden sind, ersparen wollte. Hier liegt also die Schwelle für die Betroffenen niedriger.
Vor Gericht stehen allerdings auch ganz andere Geldsummen zur Debatte. Müssen auch die Anerkennungsleistungen steigen? Und könnten finanzschwache Diözesen überhaupt noch zahlen?
Die ganze Gesellschaft muss sich fragen: Wie können wir den Betroffenen von Missbrauch mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Was für die Kirche gilt, muss auch für andere gelten. Die Frage stellt sich auch für andere Träger. Wohlgemerkt, es geht ja nicht um die Haftung des Täters, sondern auch darum, was seine Institution leisten muss.
Nun könnte man sagen: Ein Priester ist immer Priester, also haftet der Dienstgeber Kirche.
Damit wäre ich vorsichtig. Es gibt bei uns Regelwerke zur Prävention und Intervention, Schulungen, Schutzkonzepte wie in keiner anderen Einrichtung unseres Landes. Aber ich kann als Bischof nicht in alle Lebensbereiche eines Priesters hineinschauen. Ich kann ihn nicht lückenlos kontrollieren. Am Ende hat der Täter eine eigene Verantwortung und muss zur Verantwortung gezogen werden. Dafür, dass das geschieht, bin ich aber verantwortlich.
Sie haben mehrfach gesagt, Missbrauch ist ein Problem der ganzen Gesellschaft. Gibt es eigentlich einen Austausch mit anderen Organisationen, der evangelischen Kirche etwa oder Sportvereinen?
Hier und da ja, aber systematisch aufgebaut ist das nicht. Wir werden nicht allzu oft gefragt. Die evangelische Kirche verweist immer darauf, dass das Problem bei ihr anders gelagert ist. Aber es prägt sich auch in Ordensgemeinschaften anders aus als in Diözesen, trotzdem arbeiten wir zusammen. So etwas könnte ich mir auch ökumenisch vorstellen. Und es wäre ein Gewinn, wenn überhaupt Verantwortungsträger in unserer Gesellschaft in dieser Hinsicht kooperieren.
Was wäre Ihr wichtigster Rat an andere?
Der erste Schritt ist: Zuzugestehen, dass sexualisierte Gewalt überall geschieht. Dann versteht man sehr genau, dass man handeln muss, damit Chancen für anbahnendes Verhalten nicht mehr entstehen. Täter haben kriminelle Energie und nutzen die Stellen, an denen eine Organisation es zulässt, dass sie unter irgendeinen Label – Seelsorge, Sport, Schule – nah an Kinder herankommen, die sie in Abhängigkeit bringen können. Überall gibt es solche Stellen, auch in Familien. Es ist wichtig, dass wir eine Kultur der Achtsamkeit schaffen, in der Kinder geschützt und gut begleitet werden können.
Vom sexuellen Missbrauch Minderjähriger zu trennen ist der Missbrauch geistlicher Autorität gegenüber Erwachsenen für – auch sexualisierte – Übergriffe. Was tun Sie in der katholischen Kirche dagegen?
Wir beschäftigen uns auch mit diesem Thema. Wir Bischöfe haben hier auf der Frühjahrsvollversammlung ein Regelwerk beschlossen, das in Kürze veröffentlicht werden soll. Wann reden wir eigentlich vom Missbrauch geistlicher Autorität? Welche Distanz-Nähe-Regeln müssen zum Beispiel beachtet werden, wenn ein Seelsorger jemanden auf Dauer begleitet. Welche Phänomene zeigen an, dass hier etwas schrägt läuft. Ja, es melden sich Betroffene bei uns, die so etwas erlebt haben. Geistlicher Missbrauch manipuliert immer. Diese Mechanismen müssen wir offenlegen.