Kein Rückzug, keine EskalationWas können wir aus Putins Rede heraushören?
Köln – Russland feierte am 9. Mai mit großem Aufwand den Sieg über Hitlerdeutschland vor 77 Jahren – mitten im Krieg mit der Ukraine. Auf dem Roten Platz in Moskau nahm Präsident Wladimir Putin gestern die traditionelle Militärparade ab. Seine mit Spannung erwartete Rede fiel jedoch unerwartet gemäßigt aus. Bedeutet das eine Wende im Ukraine-Krieg, wie jetzt manche Beobachter spekulieren?
Was waren die wichtigsten Aussagen in Putins Rede?
Der Kremlchef blieb seiner bisherigen Linie treu und betonte die aus seiner Sicht defensive Grundhaltung Russlands. Auch gestern verteidigte er den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine als einen Akt der Selbstverteidigung. Die Ukraine habe sich aufgerüstet mit Waffen der Nato, zudem nach Atomwaffen gestrebt und so eine Gefahr für Russland dargestellt, sagte Putin auf dem Roten Platz.
Ein Angriff auf die prorussischen Separatistengebiete in den Regionen Luhansk und Donezk sowie auf die annektierte Halbinsel Krim habe unmittelbar bevorgestanden. „Russland hat präventiv die Aggression abgewehrt, das war die einzig richtige Entscheidung.“ Moskau habe dem Westen im Dezember sogar einen Vertrag über Sicherheitsgarantien, einen Dialog und die gegenseitige Wahrung von Interessen vorgeschlagen. „Alles umsonst“, sagte Putin.
Hat Putin eine generelle Mobilmachung angekündigt?
Nein. Seit Tagen gab es international Spekulationen darüber, dass Putin der Ukraine zum „Tag des Sieges“ offiziell den Krieg erklärt, bislang spricht er stets nur von einer „Spezialoperation“. Auch gab es hartnäckige Gerüchte über eine angeblich bevorstehende General- oder Teilmobilmachung in Russland, also eine weitere Ausweitung des Konflikts. Der Kreml hat dies stets als „Unsinn“ zurückgewiesen.
Gab es Überraschungen in der Ansprache des Präsidenten?
Die größte Überraschung für westliche Beobachter war wohl, dass es keine Überraschungen gab. Alle Befürchtungen – von der Ankündigung einer Generalmobilmachung bis hin zu einem Atomschlag – sind nicht eingetreten. Militärexperten hatten auch erwartet, dass Putin vor dem 9. Mai eine Großoffensive in der Ostukraine starten würde, um sich am „Tag des Sieges“ im doppelten Sinne mit einem Sieg brüsten zu können. Auch dazu kam es nicht.
Wie fiel der Grundton in der Rede des Kremlchefs aus?
Putin hielt für seine Verhältnisse eine gemäßigte Ansprache, ohne neue aggressive Drohungen gegen die Ukraine oder den Westen. Der Kremlchef verwies stattdessen immer wieder auf sein Motiv, sein Land verteidigen zu müssen. Er räumte auch Verluste ein und sicherte den Familien der „Gefallenen und Verwundeten“ Hilfen zu. Zugleich warnte Putin einmal mehr vor einem neuen Weltkrieg. Aufgabe sei es nun, „wachsam zu sein und alles zu tun, damit sich die Schrecken eines globalen Krieges nicht wiederholen“.
Gibt es Parallelen zwischen den Kriegen damals und heute?
In Putins Denken ja. Seine Staatspropaganda lautet: In der Ukraine müssen russische Soldaten ein „faschistisches System“ beseitigen, dessen Anführer einen (angeblichen) Genozid an Russen vollführen.
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Auch in seiner Rede am höchsten russischen Feiertag warf der Staatspräsident dem Westen einmal mehr vor, „Neonazis“ in der Ukraine bewaffnet zu haben. Somit stellt Putin Russlands heutige Armee in eine Linie mit den russischen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, die halfen, die Welt vom Nationalsozialismus zu befreien.
Wie fielen die internationalen Reaktionen aus?
Die Rede löste insgesamt Erleichterung aus – darüber, dass der Kremlchef anscheinend keine neue Eskalation des Krieges anstrebt. Und sie gibt Hoffnung – auf Ansatzpunkte für neue Friedensverhandlungen. Putins Rechtfertigung für die russische Offensive wies die Bundesregierung jedoch erneut zurück. „Russland hat diesen Krieg entfesselt“, sagte Vizeregierungssprecher Wolfgang Büchner. Der Verweis auf eine angebliche Bedrohung durch den Westen und die Nato entbehre „jeder Grundlage“, betonte ein Sprecher der Auswärtigen Amts. (mit dpa)