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160 Tage Ukraine-KriegWarum jetzt für beide Seiten die Zeit drängt

Lesezeit 8 Minuten
Zerstörung Ukraine Okhtyrka

Zerstörung in der ukrainischen Stadt Okhtyrka 

Köln – Dicht nebeneinander ziehen sich Krater über die ganze Breite der vierspurigen Fahrbahn auf der Antoniwka-Brücke bei Cherson. In mindestens drei Angriffswellen haben von den USA gelieferte Himars-Raketenwerfer der Ukraine die Treffer fast metergenau nebeneinander gesetzt – aus mindestens 40 Kilometern Entfernung. Nicht nur die Fahrbahnplatte, sondern auch der tragende Betonhohlkasten ist wie mit Messerschnitten geöffnet. Die Brücke, die die russische besetzte Provinzhauptstadt über den Dnipro hinweg mit ebenfalls russisch besetzten Gebieten auf dem linken Flussufer verbindet, steht noch, aber sie ist unbefahrbar.

Bringen die westlichen Raketenwerfer eine Wende im Ukraine-Krieg? Ein Sachstandsbericht nach 160 Kriegstagen, wo nicht anders angegeben gestützt auf die Analysen des unabhängigen US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW).

Die Rolle der Raketenwerfer

Die Ukraine dürfte inzwischen über 16 Raketenwerfer des US-Typs M142 „Himars“ verfügen. Hinzu kommen sechs von Großbritannien und Deutschland gelieferte Werfer, die modernisierte Versionen des schwereren Vorgängermodells M270 darstellen – die Bundeswehr-Variante wird als „Mars II“ bezeichnet. Die Systeme sind kompatibel und verfeuern die gleiche Munition. Der M270 kann mit zwölf Schüssen pro Salve doppelt so viele Raketen gleichzeitig verfeuern wie der M142, ist dafür aber schwerer und durch sein Kettenfahrgestell langsamer als die auf Lkw montierten Himars-Werfer.

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Mit der gelieferten Munition können beide Werfersysteme 80 Kilometer weit feuern, sind damit außerhalb der Reichweite russischer Haubitzen. Die Raketen fliegen mit zweieinhalbfacher Schallgeschwindigkeit dicht über der Erdoberfläche und sind für die russische Luftabwehr kaum abzufangen. Die Werfer können sofort nach dem Abschuss ihre Position wechseln und sich so vor Gegenangriffen schützen. Russland will zwar insgesamt vier Himars-Systeme zerstört haben, blieb dafür aber bisher jeden Beweis schuldig. Die USA und die Ukraine haben solche Verluste hart dementiert. Unabhängig (über die Internet-Plattform Oryx) zu belegen ist zwar die Zerstörung einiger vom Westen gelieferter Haubitzen, aber keines Himars-Systems.

Mutmaßliches Massaker in Oleniwka

Am 28. Juli wurde eine Gebäude eines Straflagers im russisch besetzten Oleniwka (Bezirk Donezk) zerstört. 53 ukrainische Kriegsgefangene aus Mariupol sollen dabei nach letzten Angaben ums Leben gekommen sein. Russland behauptete, die Ukraine habe den Bau mit Himars-Raketen getroffen.

An dieser Darstellung hatten westliche Experten von Anfang an Zweifel: Satellitenaufnahmen zeigen keine Spuren von Raketeneinschlägen und von Schäden an Nachbarbauten, die bei einem solchen Angriff zu erwarten wären. Wahrscheinlicher ist eine Explosion im Gebäude selbst. Die Ukraine machte von Anfang an die russische Seite für den Tod der Kriegsgefangenen verantwortlich. Am Montag schloss sich auch das Pentagon dem an. Das Institute for the Study of War, das zuvor neutral von einem „kinetischen Ereignis“ gesprochen hatte, geht inzwischen auch von einer gezielten Tötung durch russische Kräfte aus. Dem Roten Kreuz hat Russland bislang keinen Zugang zu dem Lager gewährt.

Einen Tag nach dem mutmaßlichen Massaker wurde ein Video publik, auf dem ein russischer Soldat an einem unbekannten Ort einen ukrainischen Gefangenen kastriert. Noch einen Tag später rief die russische Botschaft in London per Twitter dazu auf, Kriegsgefangene aus dem Asow-Regiment, das in Mariupol gekämpft hatte, zu erhängen. Moskau stuft es inzwischen als Terrororganisation ein. (rn)

Wie effektiv die Ukraine die Himars-Raketenwerfer einsetzt, belegen Aufnahmen des Nasa-Feuerüberwachungssystems Firms. Noch Anfang Juli registrierten die Nasa-Satelliten zahlreiche Großbrände auf der westlichen, von der Ukraine gehaltenen Seite der Front, Folge russischer Artiellerieangriffe. Mitte Juli änderte sich das Bild: Nun brannte es vor allem im Osten der Front. Die ukrainischen Himars-Angriffe galten dabei weniger einzelnen Artilleriestellungen als vielmehr Munitionslagern. Sie zwangen die russischen Truppen, ihre Vorräte weiter hinter die Front zu verlegen – und damit weite Transportwege in Kauf zu nehmen. Damit bremsten sie die russische Artillerie aus. Mittlerweile ist es auch östlich der Front wieder ruhiger, aber immer noch meldet die Ukraine erfolgreiche Angriffe auf russische Munitionslager oder zuletzt auch auf einen ganzen Eisenbahnzug mit Soldaten, Waffen und Nachschub.

Der australische Ex-General Mick Ryan lobt die ukrainische Strategie in den höchsten Tönen. Wie am Anfang des Kriegs, als die Ukraine die Russen bei Kiew zum Rückzug zwang, setze sie auf „Korrosion“, also auf das Stören der Logistik und das Untergraben der Kampfmoral und des Ansehens der russischen Truppen. Durch die Raketenwerfer sei Kiew nun wieder in der Lage, der russischen Armee die von ihr bevorzugte Kampfform zu verweigern – anders als bei der letzten großen Donbass-Offensive, bei der Russlands Artillerie die Doppelstadt Sjewjerodonezk/Lyssytschansk niedergelegt hatte, um den Einmarsch zu ermöglichen.

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Eine Ausnahme gibt es rund um das größte europäische Atomkraftwerk Saporischja am Dipro. Direkt neben den Reaktortürmen hat Russland Geschütze und laut „Wallstreet Journal“ einen BM30-Raketenwerfer aufgestellt und beschießt Städte wie Nikopol. Die Ukraine hat zwar jüngst per Drohnenaufnahme zu zeigen versucht, dass sie in der Lage sei, Schläge gegen die russischen Truppen auf dem Gelände zu führen, ohne die Reaktoren zu beschädigen – getroffen wurde aber nur ein Zelt mit Munition. Ein massiver Angriff wäre riskant.

Entscheidung im Süden

Die Ereignisse um das Kraftwerk zeigen: Die Kämpfe im Süden der Ukraine werden immer wichtiger. Russland hatte gleich nach Kriegsbeginn große Teile der Bezirke Saporischja (mit dem Kraftwerk, aber ohne die namensgleiche Bezirkshauptstadt) und Cherson im Handstreich besetzt. Für die Existenz der Ukraine als wirtschaftlich lebensfähiger Staat ist die Entwicklung hier viel wichtiger als Gebietsverluste oder -rückgewinne im Donbass. Denn im Süden liegen die wertvollsten Agrarflächen und die großen Hafenstädte wie Odessa, und von dem russisch gehaltenen Territorium aus werden neben Odessa auch weitere Wirtschaftszentren wie Mykolajiw, Kryivi Rih, Saporischja oder die Technologiehochburg Dnipro bedroht. Ein russischer Durchbruch Richtung Odessa könnte zudem auch in einem Angriff auf das Nachbarland Moldawien münden. Auch jetzt schon kann Russland nach Belieben den Schiffsverkehr nach Odessa erlauben oder unterbinden, wie der UN-Kompromiss zur Getreideausfuhr zeigt.

Schon seit dem Frühjahr macht die Ukraine kleine Geländegewinne im Bezirk Cherson. Hier hat sie nach eigenen Angaben 46 Siedlungen zurückerobert. Derzeit im Zentrum stehen die Stadt Cherson und ihr Umland am rechten, westlichen Ufer des Dnipro. Nur hier, am Unterlauf, hat Russland Europas drittgrößten Strom überschreiten können, und von hier aus werden Mykolajiw und Odessa unmittelbar bedroht. Andererseits sind auch die russischen Besatzer in einer heiklen Situation: Nur an drei Stellen ist der Brückenkopf Cherson mit dem anderen Ufer verbunden, nämlich durch die Antoniwka-Brücke sowie eine eingleisige Bahnbrücke und die zweispurige Straße über den Dnipro-Staudamm von Nowa Kachowka. Alle drei Flussübergänge hat die Ukraine angegriffen und behauptet zudem, auch die russischen Nachschubwege in dem Gebiet selbst zu kontrollieren. Der britische Militärgeheimdienst sieht die in Cherson stationierte 49. russische Armee in einer „äußerst verwundbaren“ Situation.

Der ukrainische Militärjournalist Ilja Ponomarenko hat die ukrainische Strategie für Cherson in einem auch bei westlichen Militärexperten viel zitierten Artikel vorausgesagt, schon ehe die ersten Himars-Raketen die Antoniwka-Brücke trafen. Seine Analyse: Hauptziel sei es, die Stadt unzerstört einzunehmen. Dazu müsse man die Russen vom Nachschub abschneiden. In Mick Ryans Worten: eine Strategie der Korrosion.

Der Donbass

Wie brenzlig die Lage für Russland im Süden der Ukraine geworden ist, zeigt sich daran, dass Truppen aus dem Donbass dorthin verlegt wurden. Logischerweise muss Russland seine Ziele im Norden, im Donbass, vorerst zurückschrauben: Angriffe auf die Stadt Slowjansk stehen zur Zeit nicht im Fokus, Russland konzentriert sich auf das Gebiet um Bachmut, wo es zuletzt kleinere Geländegewinne erzielte. Bachmut selbst wird es nach ISW-Einschätzung derzeit nicht einnehmen können. Gefährlich würde die Lage für die Ukraine aber, wenn es Russland gelänge, die Verteidigungslinie Slowjansk-Bachmut nach Westen zu überschreiben. Derzeit aber sieht das ISW eher Chancen für ukrainische Gegenangriffe bei der benachbarten, zum Gebiet Charkiw gehörenden Stadt Isjum. Die Ukraine hat wegen der Kämpfe die Evakuierung der noch nicht russisch besetzten Teil des Donbass angeordnet.

Warum die Zeit knapp wird

Beiden Seiten läuft unterdessen die Zeit davon. Russland plant unverhohlen eine Annexion besetzter ukrainischer Gebiete. Dem soll ein Fake-Referendum vorausgehen, möglicherweise am 11. September. Russland will zu diesem Zeitpunkt möglichst große Gebiete in der Hand haben – die Ukraine will genau dies vermeiden. Dieser Zeitdruck verträgt sich aber eigentlich schlecht mit der langfristig angelegten Korrosionsstrategie. Hoffen kann die Ukraine allerdings auf die Hilfe von Partisanen, die russische Behörden sowie ihre Kollaborateure angreifen. Dies könnte russische Referendums-Pläne erschweren.

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Hinzu kommen die schweren Kriegsverluste beider Seiten. Für die Ukraine hat sie Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch im Juni auf 10 000 Gefallene beziffert – seither dürften Tausende hinzugekommen sein. Für Russland bewegen sich westliche Schätzungen zwischen 15 000 und 25 000 Gefallenen, das Pentagon gab zuletzt 75 000 tote oder kampfunfähig verwundete russische Soldaten an. Auch wenn Russland angeblich eine Million Menschen unter Waffen hat, fällt es seiner Führung schwer, diese Verluste auszugleichen. Während die Ukraine mobil gemacht hat und keinen Mangel an Kriegsfreiwilligen verspürt, will der russische Präsident Wladimir Putin das Einziehen von Reservisten vermeiden. Er setzt auf Söldner des Militärunternehmens Wagner und auf jeweils 400 Kriegsfreiwillige, die alle 85 Föderationssubjekte, also Teilgebiete, Russlands anwerben sollen.Das gilt für das dünn besiedelte Burjatien genauso wie die Megastadt Moskau. Ethnische Minderheiten werden also erneut überproportional herangezogen, die russische Mittelschicht weitgehend verschont.

Nach einer von der Oppositionsplattform Meduza veröffentlichten internen Umfrage des Kreml sprechen sich 30 Prozent der russischen Bürger gegen den Krieg aus – eine Minderheit, aber eine erstaunlich starke Minderheit. Putin muss aufpassen, dass die Stimmung nicht kippt. Auch in dieser Hinsicht tickt für ihn die Uhr.