Das Internet spielt entscheidende Rolle bei der Radikalisierung. Rechtsextremismus und Islamismus nutzen soziale Medien zur Mobilisierung Jugendlicher in NRW.
VerfassungsschutzberichtDeutlich mehr politische Straftaten in NRW

Herbert Reul(CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, zeigt eine Tafel mit Fake-Nachrichten aus dem Internet bei der Vorstellung des Verfassungsschutzbericht 2024 des Landes.
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Die politisch motivierte Kriminalität in Nordrhein-Westfalen ist im vergangenen Jahr stark angestiegen. Wie aus dem neuen Verfassungsschutzbericht hervorgeht, sind die Fallzahlen 2024 über alle Phänomenbereiche um mehr als 40 Prozent von 7596 auf 10.772 angewachsen. Das ist der mit Abstand höchste Wert der vergangenen zehn Jahre.
Auffällig ist jedoch, dass die Zahl der Gewalttaten gegenüber dem Vorjahreszeitraum von 541 auf 419 zurückgegangen ist. Dies lässt sich auf einen starken Anstieg der politischen Kriminalität mit dem „Tatmittel Internet“ zurückführen. „Der Einfluss der Plattformen ist gigantisch, die Möglichkeiten der Politik sind überschaubar“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Vor allem im islamistischen Terrorismus erweise sich das Internet längst als „Hochleistungsmotor für Radikalisierung“.
„Rechtsextremismus ist größte Gefahr für Zusammenleben“
Wie Reul bereits in einem gesonderten „Lagebild Rechtsextremismus“ vorgestellt hatte, bleibt die Gefahr von rechts in der Gesamtbilanz mit allein 5461 Fällen die mit Abstand größte für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Hier ist gegen den Trend die Gewaltkriminalität sogar mit 154 Straftaten gegenüber dem Vorjahr (2023: 116) deutlich gestiegen. Reul nannte den Islamismus zwar die „größte Gefahr für Leib und Leben“, den Rechtsextremismus hingegen „die größte Gefahr für unser Zusammenleben“.

Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, stellt den Verfassungsschutzbericht 2024 des Landes der Presse vor.
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Verfassungsschutz-Chef Jürgen Kayser wies daraufhin, dass die rechtsextremistische Szene wieder verstärkt Jugendliche und junge Erwachsene anziehe. Mobilisiert werde vor allem über soziale Medien. „Rechtsextremistischer Lifestyle“ wird zudem auf Gaming-Plattformen zur Schau getragen. So genannte „Active Clubs“ versuchen derweil im realen Leben, mit Kampfsport und Outdoor-Aktivitäten Interesse bei Heranwachsenden zu wecken. Andere im Internet entstandene Gruppierungen mobilisierten mit Störaktionen gegen Christopher-Street-Day-Veranstaltungen, so der Verfassungsschutz.
Auch bei linksextremen Straftaten ist ein Zuwachs zur verzeichnen. Im vergangenen Jahr standen hier 1187 Straftaten zu Buche – 90 mehr als noch 2023. Proteste gegen die AfD seien heute für Linksautonome „ein wesentliches Mobilisierungs- und Aktionsthema“, heißt es im Bericht. Vor allem rund um den AfD-Bundesparteitag im Sommer 2024 in Essen zog der selbsterklärte „antifaschistische Kampf“ etliche Straftaten nach sich.
Im Bereich des Islamismus/Salafismus stehen zwar „nur“ 326 Straftaten in der Statistik (plus 21), doch der Verfassungsschutz warnt: „Die Gefahr islamistisch motivierter Anschläge ist weiterhin abstrakt hoch.“ Aus einer solchen abstrakten Gefahr entwickelte sich bekanntlich im Sommer 2024 in Solingen der bisher schwerste islamistische Terrorakt, den es in NRW gegeben hat.
Sorge bereitet den Sicherheitsbehörden eine neuerdings beobachtete Gruppierung namens „Nur al Ilm“ (Licht des Wissens). Sie besteht ausschließlich aus jungen Erwachsenen und Minderjährigen. Hauptsitz ist Bremen. Vernetzung und Mobilisierung finden vorwiegend über die sozialen Medien statt.
Die Gruppierung beschreibt sich als Bildungsinitiative, die sich der Verbreitung von authentischem islamischen Wissen verschrieben habe. Erste Beiträge in den sozialen Medien wurden im August und September 2024 veröffentlicht. Aufgefallen ist sie auch durch Missionierungsarbeit im öffentlichen Raum, um weitere Mitglieder zu werben. So waren sogenannte „Dawa-Stände“ bereits in Dortmund, Düsseldorf und Essen aufgebaut.
Gerade im Umfeld der Bundestagswahl hielten den Verfassungsschutz vermehrt auch Spionage und Cyberangriffe in Atem. Reul und Kayser präsentierten am Mittwoch Beispiele für täuschend echte Fake-News-Kampagnen mutmaßlich russischen Ursprungs im Netz, die Einfluss auf die politische Stimmung in Deutschland nehmen sollten. Ein neues Verfassungsschutzgesetz, das Reul noch vor der Sommerpause in den Landtag einbringen will, und die verstärkte Nutzung von künstlicher Intelligenz als virtuelle Agenten soll künftig helfen, bedrohliche Trends im Netz früher aufzuspüren.
Die Opposition im Landtag beklagte, dass die Regierung bislang in der Diagnose verharre. „Minister Reul beschreibt Symptome, aber liefert keine Therapie. Die Bedrohung ist real, sie ist digital, sie trifft unsere Jüngsten – und NRW ist nicht ausreichend vorbereitet“, kritisierte FDP-Innenexperte Marc Lürbke.