AboAbonnieren

Gutachten vorgelegtSchlamperei war wohl die Ursache für Drama von Blessem

Lesezeit 5 Minuten
Kiesgrube Erftstadt

Der Bereich zwischen der Kiesgrube und der Bebauung im Stadtteil Blessem zeigt noch Spuren der Hochwasserkatastrophe von 2021 

  1. Tagebau Schlamperei beim Hochwasserschutz soll die Katastrophe von Erftstadt-Blessem Mitte Juli begünstigt haben
  2. Die Opposition im Landtag verlangt Auskunft von Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart

Erftstadt/Düsseldorf – Es ist eines der Schreckensbilder der Hochwasser-Katastrophe vom Juli 2021, die sich ins kollektive Bewusstsein gebrannt haben: die inzwischen zigtausendfach veröffentlichte Luftaufnahme von der weggeschwemmten Kiesgrube in Erftstadt-Blessem, die mehrere Wohnhäuser unter Geröllmassen verschwinden ließ. Knapp sieben Monate nach dem Unglück verdichten sich nun Hinweise, dass ausgerechnet dort beim Hochwasserschutz geschlampt worden sein könnte. Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) wird zudem vorgeworfen, Erkenntnisse über die fatalen Mängel gegenüber dem Landtag nicht transparent genug gemacht zu haben.

Haben Behörden über mangelnden Hochwasserschutz hinweggeschaut?

So kommen Gutachter im Auftrag der Stadt Erftstadt und der für Bergbau zuständigen Bezirksregierung Arnsberg zu dem Schluss, dass der Hochwasserschutzwall an der Kiesgrube auf einer „absolut fehlerhafte Konstruktion“ beruhte und nicht den Anforderungen der Technik entsprach. Die Grube, in der Quarzsand abgebaut wird, liegt im Überschwemmungsgebiet der Erft und in direkter Nachbarschaft zur Wohnbebauung. Der Hochwasserschutzwall war offenbar auf lose angeschüttetem Material gebaut worden, das von der Flut weggespült wurde, heißt es im Gutachten des Ingenieurgeologen Professor Lutz-Heinrich Benner im Auftrag der Stad: „Die Totalschäden an mehr als zehn Häusern sind einzig und allein dem Tagebau nördlich Blessem geschuldet. Genauer gesagt, der absolut fehlerhaften Konstruktion des Hochschutzwalles.“ Hätte der Untergrund des Walles nicht nachgegeben. wäre auch die hier ermittelte Scheitelwelle des Hochwassers nicht in den Tagebau eingedrungen. Die Totalschäden hätten niemals stattgefunden, so Benner.

Anwohner hoffen auf Aus für Kiesgrube

Anwohnerin Anna Bär ist vorsichtig optimistisch mit Blick auf die Erkenntnisse der beiden Gutachter:„Jetzt darf bloß nicht wieder alles versickern“, sagt die Blessemerin, auf deren Initiative die unzähligen gelben Banner zurückgehen, mit denen im Dorf gegen die Kiesgrube protestiert wird. Sie und viele Blessemer, die schon lange die zu steilen Böschungen der Grube beklagt haben, hoffen nun auf ein endgültiges Aus für den weiteren Kiesabbau.

Für Dirk Jansen, NRW-Geschäftsleiter des Bund für Umwelt und Naturschutz, heißt es, „die Lehren aus diesem Skandal zu ziehen“. Grundsätzlich sei das Genehmigungssystem infrage zu stellen. Die Grube sei nach Bergrecht zugelassen worden, womit die Öffentlichkeit weitgehend außen vor ist. Die Hauptbetriebsplanzulassungen sei damit quasi zwischen Betreiber und Bergbehörde ausgehandelt worden, aktuelle Umweltverträglichkeitsprüfungen fanden nicht statt. (uj/kmü)

Und der promovierte Sachverständige Dr. Michael Clostermann kam schon im September 2021 für die Bezirksregierung Arnsberg zu dem Ergebnis, dass die südliche Hochwasserschutzanlage (HWSA) zulassungskonform 2015 abgenommen und vermessen wurde, sie aber „zum Zeitpunkt des Schadeneintritts nicht den Anforderungen an ein technisches Hochwasserschutzbauwerk nach dem Stand der Technik“ entsprach. Laut Clostermann stehe aber auch fest, dass die Flutung des Tagebaus erhebliche Hochwasserschäden an der Autobahn und den Ortschaften im nördlichen Unterlauf verhindert habe.

Der Energiekonzern RWE als Muttergesellschaft des Tagebau-Betreibers RBS jedenfalls könne sich folglich auf eine mängelfreie Abnahme durch die zuständige Genehmigungsbehörde berufen. Auch bei etlichen Ortsbegehungen bis wenige Wochen vor dem Hochwasser habe es laut WDR keinerlei Beanstandungen gegeben.

Die Staatsanwaltschaft Köln geht bereits dem Verdacht eines Verstoßes gegen das Bergbaugesetz nach und ermittelt gegen fünf Beschuldigte des Betreibers sowie vier Beschuldigte der Bezirksregierung Arnsberg.

Wirtschaftsministerium ahnte bereits von Mängeln

Neben der strafrechtlichen Relevanz rückt die Kiesgrube nun auch in den Fokus der politischen Aufarbeitung der Hochwasser-Katastrophe. Das Wirtschaftsministerium ahnte offenbar bereits wenige Wochen nach der Flut, dass es um den Hochwasserschutz an der Kiesgrube schlecht bestellt war. Der WDR zitierte aus dem Schreiben eines Referenten von Ende August, in dem Zweifel geäußert wurden, ob die „vorgeschriebene Hochwasserschutzeinrichtung am Südrand des Tagebau-Altbereichs (…) vorhanden war oder im Falle, dass sie vorhanden war, ausreichend bemessen war und ihre Funktion hinreichend erfüllen konnte“.

Gegenüber dem Landtag äußerte Wirtschaftsminister Pinkwart die möglichen Mängel nicht derart pointiert und ausführlich, auch wenn sein Haus darauf beharrt, das Parlament zeitnah informiert zu haben. SPD und Grüne beantragten am Montag eine Sondersitzung des Untersuchungsausschusses des Landtags zur Flut noch in dieser Woche. Sie wollen neue Beweisbeschlüsse fassen, um auch Akten sowie Kommunikationsdaten des Wirtschaftsministeriums einzusehen und Minister Pinkwart persönlich als Zeugen zu vernehmen.

SPD-Obmann Stefan Kämmerling sprach von einer „fragwürdigen Rolle des Wirtschaftsministers“. Grünen-Obmann Johannes Remmel verlangte, „dass jetzt alles auf den Tisch kommt“. Es stehe die Frage im Raum, ob die zuständigen Behörden über den mangelhaften Hochwasserschutz „hinweggeschaut“ hätten. Ob sogar eine schon im Braunkohle-Streit unterstellte Nähe zwischen dem RWE-Konzern und der schwarz-gelben Landesregierung die Prüfintensität beeinträchtigt habe? „Das ist spekulativ, aber genau das müssen wir prüfen“, sagte Remmel.

SPD und Grüne wollen Rechte vor NRW- Verfassungsgericht einklagen

Damit gewinnt der Untersuchungsausschuss weiter an Brisanz. SPD und Grünen wollen der Landesregierung nur noch zehn Tage Zeit geben, um fehlende Unterlagen herauszugeben und Schwärzungen in den Akten zu erläutern. Andernfalls müsse man die Rechte des Untersuchungsausschusses, der gerichtsähnliche Befugnisse hat, vor dem NRW-Verfassungsgericht einklagen. Es wäre ein maximaler Eklat. Seit Tagen streiten Opposition und Regierung darüber, inwieweit auch die Sommerferien-Kommunikation von Regierungsmitgliedern in Zusammenhang mit der Katastrophe über private E-Mail-Adressen offengelegt werden muss.

Das könnte Sie auch interessieren:

Umkämpft ist ebenso, wie wertend ein erster Zwischenbericht des Untersuchungsausschusses vor der Landtagswahl im Mai ausfallen darf. SPD und Grüne wollen nach mühsamer Puzzlearbeit erste Hinweise auf Organisationsversagen der Landesregierung transparent machen. So war in der jüngsten Nachtsitzung des Ausschusses etwa überraschend ans Tageslicht befördert worden, dass der einzige Hochwasser-Experte im Landesumweltamt, der ein Vorhersage-Modell bedienen kann, unmittelbar vor Katastrophenbeginn im Urlaub weilte.