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Bildungsgewerkschafts-Chefin im Interview„Stellen unterrichten keine Kinder“

Lesezeit 4 Minuten
Ayla Çelik

Seit gut einem Jahr Vorsitzende der GEW in Nordrhein-Westfalen: Ayla Çelik.

Während in Düsseldorf noch gerätselt wird, wer künftig das ungeliebte Schulministerium leiten könnte, erhöht Ayla Çelik (53), NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), im Gespräch mit Matthias Korfmann den Druck auf ein mögliches schwarz-grünes Bündnis.

Frau Çelik, was erwarten Sie von einer neuen NRW-Regierung?

Bildung endlich auskömmlich zu finanzieren. Für die Bundeswehr wurde sofort ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Für die Bildung ist seit Jahrzehnten kein Geld da. Eine neue Landesregierung muss hier mehr investieren als je zuvor und Bildungsberufe attraktiver machen. Die Pandemie hat gezeigt, wie defizitär die Bildung ist. Nun kommen aufgrund des russischen Angriffskriegs Kinder von Kriegsflüchtlingen in eine chronisch unterfinanzierte Bildungslandschaft mit eklatantem Personalmangel.

Die schwarz-grünen Koalitionspartner möchten in den nächsten Jahren 10000 zusätzliche Lehrkräfte einstellen. Ist das realistisch?

Nein. In der letzten Legislaturperiode sind eine Milliarde Euro wieder zurück in den Haushalt geflossen, weil tausende Stellen nicht besetzt werden konnten. Stellen unterrichten keine Kinder, sie müssen mit Menschen besetzt werden. Wie CDU und Grüne zusätzliche Lehrkräfte gewinnen wollen, steht an keiner Stelle im Sondierungspapier. Zudem brauchen Schulen multiprofessionelle Teams mit Lehrkräften, Sozialarbeitern und Psychologen. Sie brauchen Verwaltungsassistenten um LehrerInnen zu entlasten.

CDU und Grüne wollen auch die Eingangsbesoldung für alle Lehrkräfte auf A13 anheben und den Aufstieg leichter machen. Klingt gut, oder?

Auf den ersten Blick schon. Aber viele langjährig tätige Kolleginnen und Kollegen empfinden diesen Satz als Ohrfeige. Diese „Bestandslehrkräfte“ haben in der Pandemie hart gearbeitet, Referendare und Seiteneinsteiger ausgebildet. Man darf ihnen nicht schwammig einen „Aufstieg“ in Aussicht stellen. Sie haben sich ihren Anspruch auf A13 längst erarbeitet. Wir erwarten, dass Hendrik Wüst in den ersten 100 Tagen im Amt sein Versprechen einlöst, für alle Lehrkräfte in Grundschulen und der Sekundarstufe 1 die A13 einzuführen.

In manchen Quartieren in NRW gibt es Probleme, Lehrerstellen zu besetzen. Wie kann man das ändern?

Die Arbeit dort muss attraktiver werden. Gerade, wo Menschen in armen Verhältnissen leben, müssten viel mehr Lehrkräfte arbeiten. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Pädagogen befürchten, an sogenannten Brennpunktschulen auszubrennen. Wenn für sie Lehrkräfte gewonnen werden sollen, geht das nur über gute Bezahlung, ordentliche Ausstattung der Schulen, kleinere Klassen und Doppelbesetzung.

Es gibt doch schon die ersten sogenannten Talentschulen, und es steht auch ein schulscharfer Sozialindex für NRW zur Verfügung.

Bei den Talentschulen geht es nicht um die besondere Unterstützung von Schulen mit schwierigen Bedingungen. Mindestens 1000 Schulen – das ergibt der Sozialindex – benötigen zusätzliche Ressourcen. Derzeit wird das Vorhandene nur umverteilt. So ist der schulscharfe Sozialindex nur eine leere Hülle. Talentschulen erhalten einen Stellenzuschlag von 20 Prozent. Davon können selbst die drei Prozent der Schulen nur träumen, die als ganz besonders belastet gelten. Das kann gar nicht sein.

Akademische und berufliche Bildung sollen laut CDU und Grünen „gleichwertig“ sein. Kritisieren auch Sie den Trend zur akademischen Bildung?

Wir sind in der Tat an einem Punkt angekommen, an dem scheinbar allein das Abitur Wert hat – am besten am Gymnasium erworben. Auch viele junge Menschen glauben, sie seien weniger wert, wenn sie kein Abitur haben. Das kann die Schulpolitik nicht lösen. Aber deren Orientierung an gymnasialer Bildung sollte reduziert werden. Das fängt früh an.

GEW: Hunderttausende Fachkräfte fehlen im Bildungsbereich

Der Fachkräftemangel im Bildungsbereich läuft nach Angaben der Bildungsgewerkschaft GEW auch deutschlandweit völlig aus dem Ruder. „In den kommenden fünf bis sechs Jahren fehlen uns 200000 Beschäftigte in der frühkindlichen Erziehung und 250000 in den Schulen“, sagte die GEW-Bundesvorsitzende Maike Finnern. Wenn der Teufelskreis von Überlastung und Mangel nicht durchbrochen werde, drohe ein noch größeres Defizit an Lehrkräften.

Entscheidend seien bessere Arbeitsbedingungen und eine Senkung der Belastung, forderte Finnern. Derzeit berichteten etwa 92 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer von einer Überlastung. Immer wieder falle Unterricht aus, weil Lehrkräfte fehlen. Hinzu komme eine Abbruchquote von bis zu 50 Prozent in einigen Lehramtsstudiengängen. „Ohne attraktive Rahmenbedingen bekommen wir keinen Nachwuchs“, betonte Finnern. (dpa)

Kinder werden schon im zarten Alter von zehn Jahren in unterschiedliche „Schul-Güteklassen“ geschickt. Das Gleiche sehen wir bei den Beschäftigten. Gesellschaftlich gilt auch die Hauptschullehrkraft völlig zu Unrecht als weniger wert als die an Gymnasien. Fachleiter*innen an Grundschulen verdienen erheblich weniger als Fachleiter*innen in der gymnasialen Oberstufe. Erzieherinnen und Erzieher werden schlechter bezahlt als Lehrkräfte, dabei müsste eigentlich in die frühkindliche Bildung besonders viel investiert werden.

Das kann aber die Politik nicht allein regeln, oder?

Wenn die Gesellschaft meint, wichtig sei nur das Abitur, dann muss man sich nicht wundern, wenn die berufliche Bildung nicht wertgeschätzt wird. Wir schaffen die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft aber nicht, wenn wir nur Akademiker haben. Der Kfz-Mechatroniker und die Elektrikerin zählen genauso viel. Und auch sie sollten die Chance haben, sich akademisch weiterzubilden.