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Ulla Hahn wird 80 Jahre altVom rheinischen Dialekt zur Literaturpreisträgerin

Lesezeit 5 Minuten
Ulla Hahn, Schriftstellerin, in ihrem Garten.

Ulla Hahn, Schriftstellerin, in ihrem Garten. 

Die Autorin Ulla Hahn wird am 30. April 80 Jahre alt. Ihr Roman „Das Verborgene Wort“ erscheint in der Jubiläumsausgabe. 

Im Wörterverzeichnis „Dondorfer Platt“ ist dem rheinischen Dialekt ein kleines Denkmal gesetzt. Es steht mit Übersetzungen von Äätzezupp (Erbsensuppe) bis Zick (Zeit) im Anhang der Jubiläumsausgabe zu „Das verborgene Wort“, welche der Penguin Verlag nun anlässlich des 80. Geburtstag herausgibt, den die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Ulla Hahn am 30. April feiert.

Gefecht mit dem Literaturpapst

Platt war ihre Muttersprache und in einer geradezu atemberaubenden Selbstdisziplin hat sich das Arbeiterkind in seiner Heimatstadt Monheim am Rhein Wort für Wort das Hochdeutsche angeeignet. Von den bildungsfeindlichen Eltern argwöhnisch beobachtet lag das „Verborgene Wort“ – so der Titel ihres 2001 erschienenen Romanerstlings – in einer Welt, die sie sich mit unauslöschlichem Elan eroberte.

Vor bald 25 Jahren begann die Lyrikerin ihr Romanprojekt mit ihrer Protagonistin Hilla Palm, in dem sie bis 2017 in vier Büchern autobiografisch aufarbeitete, wie sie um das Wort gerungen hat und die eigene Stimme entwickelte. Im fiktiven Dondorf gibt es Parallelen zur eigenen Heimat, Hahn gibt viel über die Herkunft preis. Als „unsachlich, unfair und böswillig“ empfand sie wohl daher auch die Schmähung durch Marcel Reich-Ranicki, der ihren ersten Roman im „Literarischen Quartett“ des ZDF verriss.

Als Lyrikerin hingegen schätzte er Hahn. Doch wer dichten könne, solle vom Romanschreiben lieber die Finger lassen, tadelte der Literaturpapst. Persönlich gekränkt ließ Hahn in einer Talkshow damals durchklingen, dass sie den Literaturkritiker ein Vierteljahrhundert zuvor abblitzen ließ. Enttäuschte Liebe? Der „Bunten“ gegenüber drohte Reich-Ranicki, die sehr lyrischen Briefe, die Hahn ihm vor vielen Jahren geschrieben habe, zu veröffentlichen, sollte sie sich mir ihrer öffentlichen Kritik an ihm nicht zurückhalten.

Laut Bericht der Illustrierten waren ebenso die Ehepartner in den Streit verwickelt. Ulla Hahn ist seit 1996 mit dem früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (Jahrgang 1928) verheiratet. Als Frau, die sich nichts von niemanden vorschreiben lässt, ist auch ihre Figur der Hilla Palm angelegt. Das Aus für die Beziehung bedeutet die huldvolle Bemerkung eines Verehrers aus vermögenden Hause, Hilla aus ihrem Elternhaus herausholen zu wollen. Beim Antrittsbesuch war er schockiert von der Ärmlichkeit. Das trifft Hilla in ihrer Ehre.

Keine Verleugnung der Familie

Und hier liegt Ulla Hahns großes Pfund der Glaubwürdigkeit: So schonungslos sie über den Mief und die Enge des Elternhauses schreibt, das sie mit Oma und Bruder teilt, so unumstößlich ist gleichzeitig die Liebe zur Kernfamilie, auch wenn sie an der Verständnislosigkeit ihrer Eltern immer wieder zu zerbrechen droht. Doch nie ist ihr Schreiben eine Abrechnung oder Verleugnung. Die Gratwanderung zwischen Abgrenzung und Verbundenheit könnte geradezu als Lehrstück für Familientherapie gelesen werden. Katholisch ist die Kindheit geprägt.

Als Hilla eine schwarze Puppe in die Krippe ihrer Heimatgemeinde schmuggelt, hängt der Haussegen schief. Im Deutschland der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit, ihre Wegmarkierung ist die Erforschung der Worte, ein Lexikon gilt ihr als Errungenschaft. Hahns akribischer Recherche ist es zu verdanken, dass sich ihre Romane wie Zeitdokumente lesen lassen. Groß war einmal das Lob eines Leverkusener Regionalhistorikers, dessen Schwerpunkt im Öffentlichen Nahverkehr lag: In keinem ihrer Bücher stehe etwas von einem Fahrplan, den es nicht wirklich gegeben habe.

Immer bildet die Fiktion eine Welt ab, die in wunderbar austarierter Weise Milieu und Zeitgeist wiedergibt. Der Stadt Köln, in der sie auch Germanistik studierte, machte Hahn im September 2021 eine Liebeserklärung mit dem Bändchen „...wie die Steine im Rhein“ in der Schriftenreihe „lik“ des Literatur-in.Köln Archivs. Darin bekam die Stadt zwar auch ihr Fett weg. Am Wiener Platz liege zu viel Müll. Der Karneval werde manchmal zu übertrieben euphorisch außerhalb der fünften Jahreszeit beschworen.

Aber sie hebt auch die Werte hervor. Ihre Vision von einer Gesellschaft, die es schafft zu integrieren, siedelt sie in Köln an. Erfahrungen als eine, die eine andere Sprache spricht, hatte sie selbst in der Schule wie zu Hause gesammelt. Hier wie dort eckte sie an. Ein Herausforderung, so Hahn in ihrem Aufsatz, sei die „Integration des Fremden in unseren Sprachraum“.

Als Chronistin der Nachkriegszeit richtet sie das Augenmerk auch auf den schwierigen Umgang mit der deutschen Geschichte. In „Unscharfe Bilder“ beschreibt die Autorin 2003 über die Erinnerungskultur. Eine Tochter glaubt in einer Ausstellung zu „Verbrechen im Osten“ auf einem Foto bei der Erschießung von Zivilisten ihren Vater zu erkennen. Sie bringt ihm den Katalog der Ausstellung, der dies Bild nicht enthält, mit ins Seniorenheim. Sie hofft, dass er bei der Betrachtung der Fotos von selbst auf sein Verbrechen zu sprechen kommt. Widerwillig beginnt der alte Mann zu erzählen.

Schreiben und Lesen hilft bei der Genesung

Gleichfalls die Gegenwart dokumentiert Hahn: In ihrem 2022 erschienen Roman „Tage in Vitopia“, lässt sie ein keckes Eichhörnchen als Ich-Erzähler Wendelin Kretzschnuss die Welt erklären. Zuweilen irritiert das Heitere, Niedliche, geht es doch um den dringenden Handlungsbedarf angesichts der Klima- und anderer Katastrophen. In Vitopia beginnt ein Kongress, für den Raum und Zeit und die Grenzen zwischen Mensch, Tier und künstlicher Intelligenz keine Rolle spielen.

Die Jubiläumsausgabe zu „Das verborgene Wort“ enthält auch ausgewählte Gedichte und ein Nachwort der Autorin. Darin formuliert sie ihr „wetterfestes“ Motto: „Mit Schreiben und Lesen fängt eigentlich das Leben an.“ Auch ihr erinnertes Leben habe so begonnen: „Mit Lesen und Schreiben.“ Sie habe in ihrer Kindheit und Jugend offenbar Kräfte in sich trainiert, „die ich mein Leben lang hindurch brauchte und ohne die ich auch heute kaum bestehen könnte: Denn am 16. September 2023 erlitt ich einen schweren Schlaganfall, der ,Schreiben und Lesen' zwar erhielt, doch meine linke Seite lähmte; nur langsam wird diese wieder brauchbarer. Meine wundervollen Pflegerinnen und Pfleger und Physiotherapeuten loben Zähigkeit und Geduld: Hatte ich diese in der Jugend gelernt? Zehre ich immer noch von dieser Reserve?“

Für ihren Roman „Das Verborgene Wort“ (2001) erhielt Ulla Hahn den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller „Aufbruch“, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei „Spiel der Zeit“ (2014) stieß auf große Resonanz. „Wir werden erwartet (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm.