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„Ein wilder Ritt“Autor Kim de l'Horizon liefert im Schauspiel Köln einen lohnenden Abend

Lesezeit 3 Minuten
Eva von Redecker im Gespräch mit Kim de l`Horizon auf der Bühne im Depot 2 des Carlswerk, Schanzenstrasse, Köln

Eva von Redecker im Gespräch mit Kim de l'Horizon (r.)

Kim de l'Horizon, Gewinner des deutschen Buchpreises, war für eine Talkreihe im Schauspiel Köln. Mit Eva von Redecker sprach er über Hexen, Familie und die Kunst des Schreibens.

„Das war jetzt schon ein wilder Ritt!“ – Kim de l’Horizons Fazit zum Verlauf des Gesprächs mit Eva von Redecker trifft den Nagel auf den Kopf. Wer den beiden im ausverkauften Schauspiel Köln lauschen durfte, bekam von Zauberei-Lektionen über Exkurse in die Biologie bis zum Einblick in die Philosophie der Antike ein vor Assoziationslust und kreativem Denken sprühendes Feuerwerk an Theorien, Geschichten und Ideen geboten.

Doch bevor Kim de l’Horizon – im Oktober noch für den Roman „Blutbuch“ mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet und nur vier Wochen später auch durch dessen schweizerisches Pendant geehrt – ins Sinnieren und Interpretieren kommt, startete die zweite Ausgabe der Talkreihe mit einem neuen Ritual. De l’Horizon plante, nachdem die plötzlich hereinbrechende Aufmerksamkeit des Buchpreises eine sich über die kommenden Wochen hinziehende Lesereise ermöglicht hatte, in jeder besuchten Stadt einer dort ermordeten Hexe zu gedenken.

Mit verbrannten Kräutern und Gesang

Köln bildete den Auftakt des Projektes. Von verbrannten Kräutern und Gesang begleitet begann so der Abend mit einer gedichteten Erinnerung an die 1630 hingerichtete Hebamme En Volmers – und bot bereits eine Kostprobe der sprachlichen Vielschichtigkeit, für die auch „Blutbuch“ gerade gefeiert wird. Der autofiktionale Roman verhandelt in einer mitreißenden Textcollage die mütterliche Seite der Biografie de l’Horizons – geboren 1992 und in Bern lebend – samt von Generation zu Generation weitergegebener Traumata und Erfahrungen.

In einer überbordenden, Sprachen und Gattungen vermischenden Form legt der Text die Geschichte der dement werdenden Großmutter und ihrer zwei aus der kollektiven Familienerinnerung gerissenen Schwestern dar. Aus dieser Beschäftigung mit der persönlichen Herkunftserzählung speist sich auch de l’Horizons Befragung der eigenen, nicht binären Identität, die „Blutbuch“ einen Bogen aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart und schließlich die imaginierte Zukunft des Erzähl-Ichs spannen lässt.

Angeregte Diskussionen im Schauspiel Köln

Die Verbindung unterschiedlicher Stimmen, Zeiten und Stile beschreibt de l’Horizon dem Gegenüber von Redecker als „écriture fluide“, in der nichts fest und alles mit allem zu verbinden ist. „Im Jetzt ist alles vorhanden, Welt und Leben sind zu viel. Das Schreiben ist die Bremsspur des Überflusses!“ – so erklärt sich der aus der Vielfalt speisende Sprachfindungsprozess. Auch nicht-menschliche Sichtweisen finden sich regelmäßig im Buch, das die gewohnten Macharten vergleichbar erfolgreicher Romane einmal gründlich durchschüttelt.

Aus „Mutter“ wird da in Anlehnung an die berndeutsche Übersetzung „Meer“, sodass sich die Rollen agierender Subjekte und handlungsunfähiger Objekte permanent verwandeln und vertauschen. Den Trick, unseren individuellen Blick versuchsweise in eine tierische oder mikrobiologische Perspektive umzuwandeln, vollführt Kim de l’Horizon samt Gesprächspartnerin mit Bravour. Voller Hingabe erzählen sie von den Anpassungskräften unseres Immunsystems, den Parallelen von Wal oder Tiger zum Menschen sowie sich in Diskussionen wie diesen verbindenden Gehirnen.

Vom eigentlich für den Abend angekündigten Thema des Rausches ist nicht viel zu hören. Höchstens kann man von einem euphorischen Parcours durch die Ideen so unterschiedlicher Denkerinnen und Denker wie Donna Haraway, Platon oder Hélène Cixous sprechen. „Haben wir natürlich gerade erst wieder gelesen!“, ironisiert von Redecker jedoch zugleich ihr Theorie-Namedropping.

Nicht unähnlich zum reichen Themen- und Formenspektrum, das Kim de l’Horizons Literatur ausmacht, verläuft auch der Talk. Ohne Angst vor losen Gesprächsfäden oder überforderten Zuhörern nehmen es die beiden aspektreich mit den Fragen auf, was es bedeutet, in unserer Gegenwart Mensch zu sein und wie sich darüber schreiben lässt. Der Ritt war wild, vor allem aber lohnend.